Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde

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rebella67
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Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde

Beitrag von rebella67 »

http://www.gkpn.de/singer2.htm

Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde

von Dieter Birnbacher (Dortmund)


Ich stelle das hier ein, weil ich den Umgang mit dem Begriff Menschenwürde für ein zentrales Faktum halte, das die Änderung unseres Embryonenschutzgesetzes bisher immer noch verhindert.

Für die, die nicht gern so lange Texte lesen, hier ein paar wichtige Auszüge daraus:



"1. Die Inflationierung des Begriffs "Menschenwürde" in der deutschen Bioethik

Die Berufung auf die "Menschenwürde" gibt in der jüngsten deutschen ethischen und rechtlichen Debatte über Themen der Bioethik wie Keimbahntherapie, Leihmutterschaft oder Embryonenforschung immer wieder Anlaß zu Irritationen. Grund dafür ist sowohl der inflationäre und beliebige Gebrauch, mit dem die "Menschenwürde" als oberster Leitbegriff unserer Verfassung angerufen wird, als auch die diesem Begriff eigentümlichen Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten. Beide Umstände nähren den - bereits von Schopenhauer geäußerten - Verdacht, es handle sich bei diesem Begriff letztlich um eine weitgehend inhaltslose, aber sich zu rhetorischen und opportunistischen Zwecken förmlich anbietende Leerformel.


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Es gibt mehrere Gründe, mit dem Begriff der Menschenwürde in der Bioethik sparsam umzugehen. Ein Grund ist der Verdacht, daß die Emphase und das Pathos dieses Begriffs vielfach dazu herhalten, die Blöße mangelnder Argumente gegen eine ungeliebte Praxis zu bedecken. In der Tat sind die Schwierigkeiten, rationale Gründe etwa gegen die Leihmutterschaft oder die Embryonenforschung geltend zu machen, nicht zu unterschätzen. Die Tatsache, daß diese Praktiken von einer großen Mehrheit der Bevölkerung - und wahrscheinlich auch der Intellektuellen - spontan abgelehnt werden, ist ja für sich genommen kein hinreichender Grund, sie für moralisch unzulässig zu halten, geschweige denn - wie im Embryonenschutzgesetz von 1990 geschehen - sie strafrechtlich zu verbieten. In einer solchen Situation des Argumentationsnotstands muß das Menschenwürde-Argument als "knock-down"-Argument besonders willkommen sein.

Ein zweiter Grund, vor der inflationären Berufung auf die Menschenwürde zu warnen, ist die mit diesem Begriff verbundene Tendenz zur Verwischung wichtiger begrifflicher Unterschiede. Viele Autoren verwenden den Begriff Menschenwürde inzwischen so, daß er mit dem Prinzip der "Heiligkeit des Lebens" in nahezu allen Hinsichten zusammenfällt, so als hätte der Schutz der Menschenwürde den Schutz des Lebens zum alleinigen oder zentralen Inhalt (so z. B. bei Poliwoda 1992). Statt sich die Mühe zu machen, sich auf die komplexen Beziehungen zwischen Menschenwürde und Lebensschutz einzulassen, wird vorschnell angenommen, daß die beiden Prinzipien letztlich zusammenfallen - unter Ausblendung wichtiger Konfliktfälle wie Suizid und Sterbehilfe auf Verlangen, in denen die beiden Begriffe geradezu gegensätzliche Implikationen haben. Suizid und Sterbehilfe auf Verlangen (zumindest in ihrer aktiven Form) sind unvereinbar mit einem Prinzip der Heiligkeit des Lebens, aber durchaus vereinbar mit dem Prinzip der Menschenwürde. Das Recht, den Zeitpunkt des eigenen Todes frei zu wählen, wird sogar in einigen der rechtlichen Explikationen ausdrücklich unter den Begriff der Menschenwürde subsumiert (vgl. Kommentar, 1984, 291). Andererseits wird der extrakorporalen Befruchtung des öfteren nachgesagt, wider die Menschenwürde zu sein, während es zweifelhaft scheint, daß sie - da es sich ja immerhin um eine eine Technik zur Erzeugung von Leben handelt - dem Prinzip der Heiligkeit des Lebens widersprechen kann.

Der dritte und wichtigste Grund gegen die Inflationierung des Begriffs ist, daß sie über kurz oder lang die Autorität und moralische Emphase des Begriffs zunichte machen muß. Dies wäre bedauerlich, denn der Begriff hat - entgegen allen Leerformel-Diagnosen - eine wichtige Rolle zu spielen. Die gegenwärtig zu beobachtende Tendenz, ausgeprägt subjektive und zeitgebundene Inhalte in den altehrwürdigen Begriff hineinzudeuten, birgt das Risiko, daß der Begriff seine normative Kraft verliert und zur bloßen rhetorischen Geste wird - voller Konnotation, aber ohne Denotation. Um dieser Tendenz zu begegnen, wäre es wünschenswert, den deskriptiven Inhalt dieses - seinem Inhalt und seiner Funktion nach normativen - Begriffs auf eine zentrale und allseits anerkannte Kernbedeutung "gesundschrumpfen" zu lassen, die subjektiven und zeitgeistspezifischen Interpretationen weniger Raum läßt. Wenn Herbert Spiegelbergs Diktum seine Wahrheit behalten soll, daß "menschliche Würde in unserer Welt des philosophischen Pluralismus einer der wenigen Werte zu sein scheint, die allen gemeinsam sind" (Spiegelberg 1986, 198), sollte seine Bedeutung möglichst stabil sein und jenseits aller Kontroversen stehen.


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Es liegt in der Konsequenz der Unterscheidung zwischen "konkretem" und "abstraktem" Sinn des Menschenwürdeprinzips, daß die Antwort auf die Frage nach dem Träger von Menschenwürde nur gespalten ausfallen kann: Menschenwürde im erweiterten und moralisch schwachen Sinn ist eine normative Eigenschaft von allem spezifisch Menschlichen, nicht nur menschlichem Leben. Ein gewisses Maß an Achtung ist auch bei menschlichen Leichen, toten menschlichen Föten und menschlichen Organen angebracht. In seinem schwachen und abstrakten Sinn ist das Prinzip der Menschenwürde ein wichtiger - wenn auch nicht notwendig durchschlagender - Grund etwa gegen einen Handel mit menschlichen Embryonen (vgl. Stutz,1988) oder mit menschlichen Organen zu Transplantationszwecken.

Dagegen ist Menschenwürde im "konkreten" und starken Sinn eine normative Eigenschaft, die allein menschlichen Individuen mit Bewußtseinsfähigkeit zukommt. Dem frühen menschlichen Embryo kann sie nicht zugeschrieben werden, und es ist zweifelhaft, ob sie dem anenzephalen Neugeborenen zugeschrieben werden kann, das ohne jene Teils des Gehirns geboren wird, von dem (soweit wir wissen) Bewußtsein abhängt. Diese Formen des Menschlichen sind Träger von Menschenwürde lediglich im abstrakten und schwachen Sinn. Der wesentliche Grund dafür liegt darin, daß Menschenwürde in ihrer Kernbedeutung ein Ensemble subjektiver Rechte ist. Die Beilegung von subjektiven Rechten verliert jedoch ihren Sinn, wo zwar die Qualität des Menschlichen ist, aber keine Subjektivität. Ein Wesen, das im biologischen Sinn menschlich ist, aber dauerhaft ohne Bewußtsein ist, kann durch das, was ihm von außen geschieht, in keiner Weise betroffen sein. Es ist sinnlos, es vor der Gefahr des Todes, des Leidens und des Verlusts von Freiheit oder Selbstachtung schützen zu wollen, wenn diese Gefahren subjektiv gar nicht repräsentiert werden. Ohne Subjektivität entfallen die schlechthin essentiellen Anwendungsbedingungen für das starke Prinzip der Menschenwürde.

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Liebe Grüße, Rebella
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