Hallo Mymla und Anithzu,
so, jetzt komme ich endlich zu einer Antwort. Ich möchte erstmal sagen, dass ich das hier nicht als ?streiten? in dem Sinne bezeichnen möchte. Ich finde es einfach interessant, über solche Fragen zu philosophieren. Und da ist es auch ganz anregend, das mit Menschen zu tun, die etwas anders denken. Sonst wird´s ja langweilig. Und ihr seid ja beide trotz eurer im gewissen Sinne Gläubigkeit kritische Menschen. Die trifft man leider auch nicht so häufig. Menschen, die zu ihrer Religion stehen oder sonst irgendwie meinen, sie verteidigen zu müssen (meine persönlichen Erfahrungen beschränken sich hier auf Menschen christlichen Glaubens), blocken fast immer ab. ?Ich glaub das eben, ich finde das richtig und fertig! Themenwechsel!?
Zitat Mymla: ?es soll auch sehr logisch denkende gläubige Menschen geben, Einstein z. B. (kann mich irren).?
Allerdings. Bei Menschen aus vorigen Jahrhunderten erkläre ich mir das so, dass die einfach sehr von ihrer Zeit geprägt waren. Aber es gab ja auch da schon Ausnahmen, wie z.B. Goethe, der sehr religionskritisch war.
„Es ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen, und da muß sie eine bornierte Masse haben, die sich duckt und die geneigt ist, sich beherrschen zu lassen. Die hohe, reich dotierte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die Aufklärung der unteren Massen.“
Bei Menschen aus der heutigen Zeit erkläre ich mir das so, dass sie eben auch durch ihre Erziehung geprägt sind (frühkindliche Indoktrination). Dazu kommt, dass auch sie das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit haben, das wir letztens hier diskutiert hatten und dass eben auch in ihrem Leben diese Sicherheit nicht immer vorhanden ist. Vielleicht ist die Gläubigkeit dann eine Mischung aus ihrem Urbedürfnis nach Sicherheit und Vertrauen und aus der Erziehungskomponente. Aber längst nicht alle logisch denkenden Menschen, die sich heute als Gläubige ausgeben, sind es auch in der Tat. Gläubigkeit und Zugehörigkeit zum Christentum bringt leider auch heute in vielen Berufen und Gegenden einfach Vorteile. Und da gibt man sich mitunter auch diesen Schein, um die daraus resultierenden Vorteile zu kassieren. Ich habe in letzter Zeit von Umfragen gelesen, in denen die Menschen nach ihrer Religionszugehörigkeit und ihrem tatsächlichen Glauben befragt wurden. Mag jetzt nicht danach suchen, aber es waren erstaunlich viele konfessionsgebundene Menschen dabei, die sich nicht als gläubig bezeichnen. Andererseits auch ein höherer Anteil nicht gebundener Menschen, die sich in gewisser Weise als gläubig bezeichnen.
Zitat Mymla: ?Trotzdem kann man versuchen, einen Sinn daraus zu ziehen. Auch wenn man es überhaupt nicht versteht. - Ich verstehe es auch nicht und mache mir eben im Moment gerade wieder ziemlich viele Gedanken über so Sachen wie Sinn und Schicksal und "Gott". Dabei ist mein momentanes Leiden (Kinderlosigkeit) ??
Klar kann man trotzdem versuchen, einen Sinn daraus zu ziehen. Und sicherlich ist das auch hilfreich bei der Problembewältigung.
In Bezug auf die ungewollte Kinderlosigkeit habe ich übrigens meinen persönlichen Sinn gefunden und ich bin dem Zufall gar nicht mehr undankbar, dass es gerade mich getroffen hat. Jetzt, wo ich meine Kinder habe und das Leiden vorbei ist, kann ich das natürlich mit Leichtigkeit sagen. Ein Sinn ist schon mal, dass ich ohne dieses ganze Theater nicht ausgerechnet DIESE Kinder bekommen hätte. - Der nächste Sinn liegt darin, dass ich wohl eine ganz besondere Beziehung zu meinen Kindern habe. Gut, das kann jede Mutter (und jeder Vater) behaupten, aber mir geht es sehr häufig so, dass ich meine Kinder in den Arm nehme und sie ganz fest drücke und dabei denke (manchmal sage ich es auch laut), es ist so unsagbar schön, dass du da bist. Möglicherweise kann ich mich etwas mehr als gewöhnlich Eltern gewordene Eltern an meinen Kindern erfreuen. Möglicherweise ist unsere Beziehung noch etwas tiefer als gewöhnlich. Mein Mann sagt das übrigens auch. - Der dritte Sinn ist eine verschärfte Sensibilität und Achtung gegenüber (auch gesellschaftlich nicht so sehr geachteten) Randgruppen. - Der vierte Sinn ist, dass sich mit der ungewollten Kinderlosigkeit eine Welt eröffnet hat, die mir sonst verschlossen geblieben wäre. Ich finde jetzt mit dem Abstand, den ich habe, das Thema äußerst spannend. Insbesondere auch die Diskussion darüber, was erlaubt sein sollte und was nicht. Ich hätte mich nie und nimmer für diesen Themenkomplex interessiert. - Der fünfte Sinn ist, dass ich bestimmt auch nie darauf aufmerksam geworden wäre, dass Christentum in Wahrheit nicht sozial ist und dass da so viel Dreck dahinter steckt. Nur mit meiner Frage: Warum soll mir hier überhaupt Fortpflanzung verboten werden? Aha, dahinter stehen christliche Werte. Aber ich bin doch gar nicht in der Kirche - warum trotzdem mir? ? und den ganzen daran anschließenden Fragen und Antworten war ich überhaupt in der Lage, den unsozialen Charakter des Christentums zu erkennen. Und ich bin heute äußerst froh über diese Erkenntnis. - Ha, ich könnte ja jetzt sarkastisch sagen, ?Gott? hat es gewollt, dass ich zu dieser Erkenntnis komme.
Zitat Mymla: ?Aber ehrlich gesagt, "logischer" finde ich ein Weltbild, wo alles Zufall wäre, auch nicht.?
Ich auch nicht. Daher schrieb ich ja auch, dass es sehr komplexe Mechanismen gibt, die manche Ereignisse schon sozusagen vorprogrammieren - die Naturgesetze und ihnen untergeordnet u.a. das menschliche Gehirn.
Zitat Mymla: ?Hm, also wenn man denkt, dass es keine höhere Macht gibt, bleibt nur der blinde Zufall, und der ist noch grausamer als das Schicksal. Dann kann man nur HOFFEN, dass der Zufall es gut mit einem meint. Oder aber man hofft auf die Menschen und glaubt allein an die eigene Kraft und die der Mitmenschen.?
Siehe oben! Ja, in erster Linie ist es sicher der Glaube an die eigene Kraft und die der Mitmenschen. Das kann ich auch wieder direkt an meiner eigenen Erfahrung fest machen. Ich konnte in meiner tiefen Verzweiflung aufgrund des unerfüllten Kinderwunsches auch wirklich nur aus dem Glauben an meine eigene Kraft wieder neuen Mut schöpfen. Nur das konnte mir immer irgendwie weiter helfen: ?ICH schaffe das!? Die Mitmenschen fielen in diesem Fall so gut wie weg, da ja bei uns keiner was davon wusste. Mein Mann konnte mir Mut geben, indem er hinter der Sache stand und mich zu trösten versuchte. Immerhin hatte ich ihm gegenüber das Vertrauen, dass er das mit mir bis zum Schluss durchzieht. Letzten Endes richtete sich meine Hoffnung auf den Doktor, in dem ich die Kompetenz sah, dass er das schaffen würde.
Zitat: ?Diese Haltung ("ich brauche keinen Gott", so könnte man das vielleicht beschreiben) braucht auch viel Stärke, und mir fehlt in diesem Weltbild eben vielleicht die Demut.
Mag sein, dass Stärke dabei sein kann, aber für mich persönlich kann ich das gar nicht so als Stärke bezeichnen. Wozu sollte ich einen Gott brauchen, wenn ich eh nicht dran glaube? Und ich kann echt auch ohne diesen Glauben glücklich sein.
Und ?Demut? ist für mich wieder ein zu sehr von der Kirche geprägter Begriff. Wie würdest du den übersetzen? Meinst du damit das Gefühl, ein Nichts zu sein, der letzte Dreck überhaupt, gehorchen zu müssen? Ich mag dieses Wort irgendwie mit dieser Intention nicht. Dahinter steht doch nur, dass irgendwelche Macht besessenen Menschen anderen Menschen das Gefühl, ein Nichts zu sein, geben, um sie nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.
Vielleicht meinst du damit aber auch nur die Erkenntnis, ich persönlich bin nicht der Mittelpunkt der Welt, um den sich alles dreht. Ich bin nur einer von x-Milliarden Menschen auf der Welt, die alle so ihre eigenen Bedürfnisse haben, die meinen Bedürfnissen gleichberechtigt sind. Insofern kann ich mit meiner Einsicht auch ohne Gottesglauben zustimmen.
Zitat Mymla: ?Ich möchte jetzt aber, nur weil es mit dieser psycho-logischen Erklärung nahe liegt zu denken, dass mein Bedürfnis alles erklärt, nicht interpretiert bekommen, dass es also gar keinen Sinn GIBT, sondern ich ihn nur suche. Wer weiss das schon??
Nein, das wollte ich nicht sagen, dass es gar keinen Sinn gibt. Ich habe das ja an meinem persönlichen Beispiel gezeigt, dass es sehr viel Sinn geben kann, der sich manchmal erst hinterher zeigt.
Zitat Mymla: ?dass es mir sinnlos scheint, wenn man bei dieser Diskussion versucht, Recht zu haben. Oder einander mit Argumenten von der eigenen Sichtweise zu überzeugen.?
Um Recht haben geht´s mir gar nicht. Mir geht es mehr um die Herausforderung, für manchen Menschen scheinbar unerklärbare Dinge eine Erklärung zu finden und eben auch zu zeigen. Derjenige, der das liest, hat dann die Chance, diese Erklärung mit seinem Weltbild abzugleichen und kann letzten Endes draus machen, was er bzw. sie will.
Bezogen auf das Christentum geht es mir allerdings auch um Aufklärung, da ich der Überzeugung bin, die meisten Menschen, wissen nicht, was sie glauben und sind einfach viel zu unkritisch. Letzten Endes hat aber doch jeder Mensch das Recht, in eigenes Weltbild zu haben. Und zumindest so lange, wie er damit friedlich ist, geht es ja.
Zitat Mymla: ?Mir scheint eher, dass du ein ziemlich festes Urteil hier vertrittst und Religion an sich als etwas weitgehend Naives bis Gefährliches, Schädliches bewertest.?
Vielleicht ist das immer noch nicht verständlich genug rüber gekommen. Der Glaube an Übernatürliches allein ist nicht naiv, gefährlich oder schädlich. Religion als komplexe Struktur mit einer Ausnutzung der Gläubigkeit von Menschen ist aber gefährlich und kann schädlich werden. Naiv ist hier der blinde Glaube an das, was einem so vorgebetet wird, ohne Hinterfragung. Naiv ist auch der blinde Gehorsam gegenüber Menschen, die die Gläubigkeit ausnutzen. Allerdings wohl auch nicht immer naiv in einem so abwertenden Maß. Denn manche Menschen können möglicherweise aufgrund ihres geringen Bildungsstandes und möglicherweise auch aufgrund ihrer frühkindlichen Indoktrination nicht anders.
Zitat Mymla: ?vielleicht siehst du es so, dass eine Gesellschaft ohne Religion(en) besser wäre. Ich habe darüber schon oft nachgedacht und ich weiß es nicht, vielleicht gäbe es überhaupt keine großen Unterschiede, mit oder ohne.?
Ich bin ja in dieser Frage fasziniert von dem Vorschlag von Franz Buggle (Autor: ?Denn sie wissen nicht, was sie glauben?), ein neues religiöses Paradigma aufzustellen. Mindestanforderungen an ein wirklich hilfreiches religiöses Paradigma sind (Zitate aus o.g. Buch, Seite 422 - 425):
1. Es müsste mit dem Wissensstand und den aufgeklärt-kritisch reflektierten Erfahrungen heutiger Menschen vereinbar sein (keine Unredlichkeiten/ keine Verdrängungsprozesse/ keine intellektuellen Verbiegungen/ kein Denkverzicht wie z.B. beim Theodizeeproblem
2. Es müsste dem heute zumindest als Postulat erreichten ethisch-moralischen Standard gerecht werden (z.B. keine Höllenstrafe, keine Kreuzesopfer)
3. Zwar nicht für Widersprüche zur Welterfahrung heutiger Menschen, für Unterschreitungen von Vernunft und heutigem Wissensstand, wohl aber für Überschreitungen von menschlicher Ratio und heutigem Wissensstand müsste ein neues religiöses Paradigma weiten Raum lassen. ? Aus dem Bewusstsein der Beschränktheit, der nicht ausreichenden Kapazität des menschlichen Gehirns im Hinblick auf die Beantwortung so komplexer Fragestellungen wie etwa der weltanschaulichen müsste sich die Forderung großer Toleranz über die hier angesprochenen Kriterien hinaus ergeben. Es dürften jenseits der hier genannten Kriterien keine unbedingten, absoluten Ansprüche gestellt werden. Ein Satz wie ?Wer nicht glaubt, der wird verdammt? (Mk. 16;16) müsste endgültig zum ?Un-Satz? werden. ? Es müsste aufgezeigt werden, dass jeder Mensch überfordert wäre, würde man von ihm erwarten, auch nur die durch den Menschen erkennbare Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zu realisieren oder gar zur ausrichtenden Grundlage seines Handelns zu machen. ?
4. Ein solches wirklich neues Paradigma müsste hilfreich für den Lebensvollzug sein, eine Orientierungs-, ?Sinngebungs?-, Stützfunktion erfüllen.
So wird moderne Religionskritik die prinzipielle Möglichkeit und Legitimität einer religiösen Dimension der Welt und der menschlichen Existenz nicht von vornherein leugnen, sondern ihr prinzipiell als Möglichkeit offen gegenüberstehen. Moderne Religionskritik so verstanden richtet sich nicht gegen diese mögliche religiöse Dimension als solche, als vielmehr gegen ihre jeweils konkrete, historische ?Füllung? und Ausgestaltung durch archaisch-inhumane und/ oder absurd-widersprüchlche Inhalte.
Ende der Buggle-Zitate.
Zitat Mymla: ?Aber ich habe eben doch das Gefühl, dass Religionen mit ihrer Idee, als menschliche Gemeinschaft ein System von Werten und Leitlinien zu haben und gemeinsam die Welt zu einem besseren Ort machen zu wollen, auch mit dem Glauben an mehr, als unser Verstand kapiert, etwas Wertvolles sind und es ohne sie nicht unbedingt besser aussähe.?
Zur ?Legende von den christlichen Werten? schreibt Dr. Michael Salomon hier:
http://www.leitkultur-humanismus.de/entgleisungen.htm .
Zitate daraus: ?dass die fundamentalen Werte, die für moderne Rechtstaaten konstitutiv sind - die Menschenrechte, die Freiheit der Meinungsäußerung, der Wissenschaft, der Kunst, die demokratische Gewaltenteilung etc. ?, keineswegs dem Christentum entstammten, sondern, dass diese in einem erbitterten, Jahrhunderte währenden Widerstandskampf gegen die Machtansprüche dieser Religion erkämpft werden mussten.
??
dass die Idee der Menschenrechte auch heute noch mit einem Ernst gemeinten christlichen Glauben nicht zu vereinbaren ist. Deshalb ist es auch nur konsequent, dass der Vatikan bis heute die Europäische Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert hat.?
An gleicher Stelle steht auch zur ?Legende von den fortschrittlichen zehn Geboten? geschrieben, u.a. auch zu den Werten und Leitlinien in sozialen Gruppen:
?Trivial sind die Zehn Gebote, insofern sie über weite Teile selbstverständliche Verhaltensrichtlinien benennen, die für jede funktionierende soziale Gruppen gelten, auch für Steinzeitfamilien, SA-Truppen und heutige Hooligans. Ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen muss für die eigene Gruppe gewährleistet sein, damit sie überhaupt existieren kann. Lüge, Betrug, Mord etc. müssen innerhalb der eigenen Gruppe tabuisiert sein. Gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen darf man diese Verhaltensweisen aber sehr wohl zeigen, mitunter wird man hierzu sogar regelrecht aufgefordert, siehe den mehrfach geäußerten göttlichen Befehl zur Ausrottung anderer Völker und der aus der eigenen Gemeinschaft ausgeschlossenen ?Götzendiener? im Alten Testament, Hitlers unverblümten Aufruf zur ?Vernichtung der jüdischen Rasse? oder (weit harmloser) die brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Schlägerbanden rivalisierender Fußballvereine.?