Die Reproduktionsmedizin im Spannungsfeld

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Chrischn
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Die Reproduktionsmedizin im Spannungsfeld

Beitrag von Chrischn »

Die Reproduktionsmedizin im Spannungsfeld zwischen ethischen Normen und Patientenanspruch

H.W. Michelmann
Arbeitsgruppe Reproduktionsmedizin der Universitätsfrauenklinik Göttingen



Das Vertretbare vom Machbaren zu unterscheiden ist eine Kunst, die in immer stärkerem Maße von der modernen Medizin verlangt wird. angesichts immens gewachsener Möglichkeiten des Machbaren, gerade in der Reproduktionsmedizin, gewinnen in der öffentlichen Diskussion Fragen reproduktionsmedizinischer Ethik zunehmen an Bedeutung.

Mit einem schon fast schwindelerregendem Tempo hat sich die assistierte Reproduktion in den letzten 20 Jahren entwickelt und dabei Bereiche erschlossen, die in den Augen vieler Menschen bereits als Grenzbereiche zu bezeichnen sind. Hinzu kommt, dass Ärzte und Naturwissenschaftlicher sich mit einer geradezu erschreckenden Unbekümmertheit in Tabuzonen vorgewagt haben, um dann darüber auch noch möglichst medienwirksam zu berichten. Dieses macht das überwiegend negative Bild der Reproduktionsmedizin erklärbar und lässt einsehen, warum diesem Bereich der Medizin von großen Teilen der Öffentlichkeit mehr Abneigung als Zuneigung entgegengebracht wird. So bewerten große Teile der Gesellschaft die Kinderwunschbehandlung sicher anders als Fortpflanzungsbiologen oder Mediziner. Anders aber auch als das um Hilfe bittende, kinderlose Paar. Es handelt sich bei diesen unterschiedlichen Bewertungskategorien um das bekannte Problem von Abstraktion und konkretem Fall, von der anonymen Bewertung einer medizinischen Technik einerseits und der Hilfe für ein individuelles und menschliches Problem andererseits.

Patientenanspruch
Kinderlose Paare leiden unter der Kinderlosigkeit und versuchen, ihr Leiden mit Hilfe der Reproduktionsmedizin zu überwinden. Diese verfügt über eine breite Palette reproduktionsmedizinischer Techniken und Therapieformen, deren Anwendung durch das Embryonenschutzgesetz von 1991 geregelt wird und dem Arzt ein Arbeiten nur in streng limitierten Rahmenbedingungen ermöglicht. Dies hat zwar zum Vorteil, dass sich in den letzten Jahren in Deutschland die öffentliche Kritik an der Reproduktionsmedizin in Grenzen hielt, aber, im Vergleich zum Ausland, der Patientenwunsch, d.h. das gesund geborene Kind, nur in begrenztem Maße erfüllt werden kann.

Inwiefern die Behandlungsergebnisse die Bedürfnisse der Patienten tatsächlich befriedigen, läßt sich aufgrund des Deutschen IVF-Registers (DIR) beantworten. So wurde 1997 in Deutschland in 75 Zentren die IVF 9.902 mal und die ICSI 15.365 mal durchgeführt. Es kam in diesem Jahr nach 22.016 Embryotransfers zu 5.228 klinischen Schwangerschaften (23,8%).

Trotz des Embryonenschutzgesetzes umfasst die assistierte Reproduktion heute viel Teilbereiche, die, von einem ethischen Standpunkt aus betrachtet, zumindest diskussionswürdig sind. Patientenanspruch und ethische Normen stehen häufig diametral zueinander. Ein Zugewinn auf der einen bedeutet fast immer einen Verlust auf der anderen Seite. Es gibt zwei Komplexe, die nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind: das Proben der Wertschätzung und Bewahrung vorgeburtlichen Lebens und der Wunsch, dem kinderlosen Paar möglichst effizient zu helfen. So steckt die Reproduktionsmedizin in Deutschland in der Dilemmasituation, optimale Hilfe für die Patienten aufgrund rechtlicher oder ethischer Einschränkungen nicht geben zu können. Die Frage stellt sich, ob der Erfolg einer Kinderwunschbehandlung in Zukunft trotzdem noch zu steigern ist, und ob verbesserte Erfolgschancen nur über einen Verlust ethischer Normen zu erreichen sind.

Prognostische Faktoren
Der Wunsch jeden Paares ist es, eine Behandlung mit einer Schwangerschaft zu beenden. Obwohl es für das einzelne Paar keinerlei Schwangerschaftsvorhersage gibt, können doch allgemeingültige Regeln aufgestellt werden. So gibt es Paare mit guter und mit schlechter Prognose. Eine gute Prognose liegt immer dann vor, wenn die Patientin jünger als 35 Jahre als ist, weniger als drei erfolglose IVF-Versuche hinter sich hat oder bereits nach IVF/ICSI schwanger geworden ist. Ein weiterer entscheidender Prognosefaktor ist das Entwicklungsstadium und die Qualität der übertragenden Embryonen.

Einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren zum Erreichen einer Schwangerschaft ist das Alter der Frau, welches einen großen Einfluß auf die ovarielle und uterine Leistung hat. Der negative Einfluß fortgeschrittenen Alters wird auch in der Deutschlandstatistik deutlich, in der Frauen über 39 Jahre signifikant schlechtere Schwangerschaftsraten im Vergleich zu Frauen unter 39 Jahren aufweisen. Mit fortschreitendem Alter nimmt die Eizellqualität immer mehr ab. Älteren Frauen könnte geholfen werden, indem diese negative Effekt durch Eizell- oder Embryonenspende umgangen wird. Im Rahmen von Eizellspendeprogrammen für Frauen über 40 Jahre wird dies im Ausland häufig praktiziert. In Deutschland sind Drittpersonen im Rahmen von IVF und ICSI nicht erlaubt, Eizell-, Sammenzell- sowie Embryonenspende damit nicht möglich. Ist es unter diesen Gesichtspunkten zu verantworten, die assistierte Reproduktion durchzuführen, wenn von Beginn an klar ist, dass ihnen aufgrund der Rechtslage in Deutschland eine optimale Behandlung nicht gegeben werden kann?

Es erscheint unmöglich, diese Fragen zu beantworten, da die Argumente für oder gegen eine Behandlung vielfältig und vielschichtig sind. Das Argument, dass hier eine fast erfolglose „Luxusmedizin“ auf Kosten der Solidargemeinschaft durchgeführt wird, erscheint überzeugend. Den Willen des einzelnen Paares respektierend, könnte eine Therapie auf eigene Kosten nach ausführlicher Beratung erfolgen. Diese Beratung sollte aber mehr gegen als für eine Behandlung ausgerichtet sein und die geringen Erfolgschancen explizit ansprechen.

Embryoqualität
Besonders im Bereich der Embryokultur mit anschließendem Embryotransfer konkurrieren Patientenanspruch und ethische sowie rechtliche Normen miteinander. Werden, wie nach dem Deutschen Embryonenschutzgesetz gefordert, von allen entstandenen Vorkernstadien nach dem Zufallsprinzip nur drei Zygoten zur weiteren Kultivierung ausgewählt, so ist deren Entwicklungspotenz unbekannt. Aufgrund der hohen Aberrationsrate in frühen Entwicklungsstadien, entwickeln sich nur selten auch drei implantationsfähige Embryonen. Werden jedoch alle entstandenen Vorkernstadien vier bis fünf Tage lang in sequentiellen Medien kultiviert, ist eine Aussage über die Qualität der entstandenen Embryonen möglich. Im Ausland erreichen einige IVF-Gruppen durch den Transfer expandierter Blastozysten bereits Schwangerschaftsraten von über 50%. Durch Embryoselektion wäre es auch möglich, nur einen oder zwei Embryonen zu transferieren, um damit das Mehrlingsrisiko zu minimieren. Dieses Vorgehen würde jedoch bedeuten, dass die nicht transferierten Embryonen vernichtet oder kryokonserviert werden müssten. Das ist nach der augenblicklichen Rechtslage in Deutschland nicht möglich.

Das erreichte Entwicklungsstadium am Tag des Embryotransfers hat einen signifikanten Einfluss auf das Ergebnis der Behandlung. Werden zwei sehr gute, d.h. expandierte Blastozysten übertragen, so steigt, im Vergleich zu einem Transfer in einem früheren Stadium, zwar die Schwangerschaftsrate, nicht aber die Rate an Mehrlingen. Bei zwei Embryonen liegt die Mehrlingsrate bei ca. 10%, während sie bei 3 Embryonen fast 30% erreichen kann. Dies bedeutet, dass die Übertragung nur weniger, aber gute Embryonen zu sehr guten Schwangerschaftsraten bei einer gleichzeitigen Reduzierung der Mehrlingsrate führen kann.

Mehrlinge
Ein Vorwurf, mit dem in Deutschland die assistierte Reproduktion zu Recht leben muss, ist der, dass durch sie zu viele Mehrlingsschwangerschaften entstehen. Nach Angaben des IVF-Registers traten 1997 bei über 4.000 Geburten in 19,1% Zwillinge und zu 4,0% Drillinge auf. Diese erhöhte Rate könnte, wie bereits erwähnt, gesenkt werden, würde man die Zahl der entstehenden Embryonen von drei auf zwei reduzieren. Eine Embryoselektion nach 4 – 5 tägiger Kultur mit anschließendem Transfer könnte zu einer signifikanten Erhöhung der „take home baby rate“ bei einer gleichzeitigen Eliminierung von Drillingen und Vierlingen führen.

Präimplantationsdiagnostik
Die Dilemmasituation, in der sich die Reproduktionsmedizin in Deutschland befindet, wird besonders deutlich bei der Diskussion um die Päimplantationsdiagnostik. Beide, Befürworter und Gegner dieser Art frühembryonaler genetischer Analyse mit anschließender Selektion führen überzeugende Argumenten ins Feld. Bisher aufgrund des Embryonenschutzgesetzes nicht in Deutschland erlaubt, fordern de Befürworter eine Änderung dieser Regel. Nur die Präimplantationsdiagnostik als früheste Form der Pränataldiagnostik verhindert den späteren Schwangerschaftsabbruch bei Frauen, die aufgrund eines Risikofaktors (Alter; genetische Disposition; vorhergehende Geburt eines fehlgebildeten Kindes) in jedem Fall eine Pränataldiagnose durchführen lassen würden. Die Präimplantationsdiagnostik erlaubt es, noch vor dem Entstehen einer Schwangerschaft den genetisch kranken Embryo zu erkennen, ihn nicht zu übertragen und so der Frau die Not und de Belastung eines Abbruchs zu ersparen.

Kritiker hingegen argumentieren, dass die Erlaubnis zur Durchführung dieser Art von Diagnostik zu einer Art reproduktionsbiologischem Dammbruch führt, der zukünftigen Missbrauch Tür und Tor öffnet. Dadurch, dass sich das betroffene Paar noch vor dem Eintritt einer Schwangerschaft nicht in einer Konfliktsituation für oder gegen das Leben eines Feten befindet, würden Entscheidungen gegen den Embryo viel leichter getroffen und immer größere Ansprüche an den perfekten „Embryo“ gestellt werden. Von einer Geschlechtsselektion ganz zu schweigen.

Wie bei der Entstehung des Embryonenschutzgesetzes auch, befinden wir uns heute in einer Situation, in der eine gesetzliche Regelung der kontrovers diskutierten Techniken assistierter Reproduktion nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene unbedingt notwendig wird. Unter Einschaltung von Ethikkommissionen kann sie den positiven Beweggründen der Befürworter Rechnung tragen, dabei aber Risiko- und Missbrauchsmöglichkeiten verhindern. Trotz aller möglichen Regelungen wird jedoch das ethische Dilemma in jedem Fall bestehen bleiben, da das Töten menschlichen Lebens, sei es im Embryonal- oder Fetalstadium weder so noch so verhindert wird.

Als Alternative bietet sich de Polkörperdiagnostik an, durch die genetisch aberrante Eizellen erkannt und von einer Befruchtung ausgeschlossen werden können. Dieses Verfahren, das sich im Augenblick noch in der Entwicklung befindet, kann zu einem großen Teil das Entstehen genetisch aberranter Embryonen verhindern. Die Möglichkeit, Spermatozoen aufgrund ihrer Geschlechtschromosomen gebundene Aberrationen vom Fortpflanzungsgeschehen auszuschließen. Nach dem Embryonenschutzgesetz ist dies bei genetischer Indikation erlaubt.

Schlussbemerkung
Seit 20 Jahren durchläuft die Reproduktionsmedizin eine beispiellose Entwicklung, deren Auswirkungen und deren Ende nicht abzusehen sind. Der Patientenanspruch könnte sich vom „Kind um jeden Preis“ immer mehr hin zum „perfekten Kind“ zunehmend von der Entscheidung für „ein bestimmtes“ Kind verdrängt werden. Es ist höchste Zeit, trotz aller positiven Aspekte, die „neue“ Reproduktionsmedizin kritisch zu hinterfragen und sich mit den Ängsten und Befürchtungen einer verunsicherten Bevölkerung auseinander zu setzen. Es wird sicher nicht möglich sein, die Entwicklung zurückzuschrauben, wohl aber, auch im internationalen Konsens, Rahmenbedingungen zu schaffen, die von allen Teilen der Gesellschaft akzeptiert werden. Nur so lässt sich das zum Teil negative Ansehen der Reproduktionsmedizin in positive Akzeptanz wandeln.

Jede medizinische Maßnahme beinhaltet nicht nur die Beseitigung eines körperlichen Leidens, sondern wirft psychische, soziale und ökonomische Konsequenzen auf. So dürfen z.B. die Pränataldiagnose, die Krebstherapie, der Schwangerschaftsabbruch und die Behandlung vieler chronischer Leiden ebenfalls nicht nur aus medizinischer Sicht betrachtet werden. Auch die Reproduktionsmedizin schafft Probleme, die aber nicht spezifisch für die Therapie gegen Kinderlosigkeit sind. Auseinandersetzungen um die dadurch entstehenden ethischen Konflikte gehören in einen größeren Zusammenhang und sollten nicht ausschließlich im Rahmen der Reproduktionsmedizin diskutiert werden.

Aus ihrer Dilemmasituation, dem Widerspruch zwischen Patientenanspruch und ethischen Normen, wird sich die Reproduktionsmedizin nicht befreien können: Ein Zugewinn an „Erfolg“, wie immer man diesen auch definiert, wird fast immer nur auf Kosten von ethischen Normen zu erreichen sein.
Viele Grüße
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** 11.07.2021 - klein-putz ist schon 20 Jahre alt! **
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