Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Hier antwortet Frau Silke Schwekutsch von www.kindeshalb.de

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Kindeshalb
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Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Beitrag von Kindeshalb »

Beim Aufräumen habe ich in einem lange nicht mehr benutzten Buch einen Zettel mit dem Märchen von der traurigen Traurigkeit gefunden.
Leider fehlt eine Notiz zum Verfasser - wer es kennt und weiss, wer es geschrieben hat, bitte melden!

Ich möchte das Märchen gerne hier einstellen, weil es mich berührt.

Wie ergeht es Dir beim Lesen?

Nachtrag und danke an free: Das Märchen ist von Inge Wuthe.


Das Märchen von der traurigen Traurigkeit


Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam.
Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte
den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.
Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter.
Sie konnte nicht viel erkennen.

Das Wesen, das da im Staub auf dem Wege sass, schien fast körperlos.

Sie erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.

Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?"

Zwei fast leblose Augen blickten müde auf.
"Ich?
Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und leise, dass sie kaum zu
hören war.

"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie
eine alte Bekannte grüssen.

"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.

"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder hast du mich ein Stück des Weges
begleitet."

"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht
vor mir? Hast du denn keine Angst?"

"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weisst doch selbst
nur zu gut, dass du jeden Flüchtling einholst. Aber, was ich dich fragen
will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich... bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

"Die kleine alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte
sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf.
"Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."

Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören
wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht.
"Ach, weisst du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, dass mich
einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu
gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu
ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden
mich wie die Pest."

Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen
sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter.
Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen:
Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie
sagen: Man muss sich nur zusammen reissen. Und spüren das Reissen in den
Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die
aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben
sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."

"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft
begegnet." Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
"Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei
ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu
bauen, um ihre Wunden zu pflegen.
Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut.
Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh.

Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint,
kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht,
dass ich ihnen dabei helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grelles
Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus
Bitterkeit zu." Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach,
dann stärker und schliesslich ganz verzweifelt.

Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in
ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlte, dachte sie und
streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit",
flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln
kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich
begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."

Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und
betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber ... aber - wer bist
eigentlich du?"

"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie
wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. "Ich bin die Hoffnung."
Zuletzt geändert von Kindeshalb am 06 Mär 2015 20:05, insgesamt 1-mal geändert.
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Ruby6634
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Beitrag von Ruby6634 »

Das Märchen ist wunderschön, es hat mich zu Tränen gerührt.

Vielen Dank, daß Sie es hier eingestellt haben!!
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manu1976
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Beitrag von manu1976 »

Das ist sehr sehr schön
Liebe Grüße Manu mit Cecelia *07.02.2006 und Alicia *22.04.2010
free
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Beitrag von free »

Das ist von Inge Wuthe.
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rebella67
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Beitrag von rebella67 »

Ich habe es vor Jahren schon mal hier gelesen und auch auf meinem PC gespeichert.

Und ich bewundere es oft, wie Menschen ihre Gefühle in Worte fassen können.
Liebe Grüße, Rebella
------------------------------------------
Gast

Beitrag von Gast »

Ich kenn es noch aus der Schule
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Mondschaf
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Beitrag von Mondschaf »

hallo in die runde,

hmm, da gefragt wurde: ich kann damit garnichts anfangen. :?:

ich persönlich mag eher keine texte, wo der autor in meinen augen eine idee hat, die er eigentlich auch im klartext sagen könnte. und die dann aber in eine für mich auch noch ziemlich kitschig wirkende geschichte kleidet.

aber es ist doch schön, dass es dazu verschiedene meinungen gibt und so ein text manchen berührt.

liebe grüße

mondschaf
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Kindeshalb
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Beitrag von Kindeshalb »

Danke free, ich werde die Autorin gleich mal ergänzen.

Mondschaf: Ich glaube, Menschen können auf sehr unterschiedliche Art und Weise denken, wahrnehmen und auch fühlen. Ich persönlich bin sehr gut über Bilder zu erreichen. Wenn mir jemand eine Geschichte erzählt, dann erreicht mich das besser als wenn mir jemand den gleichen Inhalt in abstrakten Begrifflichkeiten erklären möchte.

Aber klar: Nicht jede und jeder fängt damit was an und das ist ok und gut so.
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Mondschaf
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Beitrag von Mondschaf »

hallo,

ja da hast du recht!! :prima:

habe witzigerweise gerade vor ein paar tagen darüber nachgedacht, dass ich wohl vor allem bei meinen kindern manchmal überzeugender wäre , wenn ich manches - interessanterweise gerade positives, aufmunterndes, eben nicht im klartext sagen, sondern in geschichten verpacken würde... :o

liebe grüße

mondschaf
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Barbari
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Beitrag von Barbari »

Märchen hat einen tieferen Sinn und hat mich auch zu Tränen gerührt :((
Liebe Grüsse,
Barbari
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