Riccardas Warteschleifen - Ablenkungsordner :-)

Unsere Hauptkategorie. Hier wird über alles rund um den Kinderwunsch diskutiert. :-)
Riccarda
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Beitrag von Riccarda »

Liebe Claudine,
mit dieser Geschichte sprichst du mir aus dem Herzen! Sie ist wunderbar! Ich habe früher auf dem Schulweg immer für mich selbst gewettet, dass ich vor dem von hinten ankommenden PKW einen Baum oder die Ampel oder den Zebrastreifen ereichen würde, ohne zu rennen versteht sich! Hat leider oft nicht geklappt, aber den laaangweiligen Schulweg verkürzt.
Vielen Dank für diese tolle Geschichte!

Liebe Dodi,
schnüff, mein Babyfoto gibt es nicht. Naja, auch besser so! Meine Mama hat mir nämlich mal erzählt, dass ich völlig schrumpelig und hässlich war, als ich auf die Welt gekommen bin. Da will ich lieber mal nicht als Eierabschrecker herhalten!!!

Liebe Grüße Riccarda
dodi

Beitrag von dodi »

liebe Riccarda, es ist nur ein Joke, schau mal rein.
Gute Nacht
dodi
Claudine*
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Beitrag von Claudine* »

Liebe Riccarda

Hier findest du das 9. Ablenkungsmanöver, viel Spass:

Der überlistete Advokat

Einst war ein Mann wegen eines Vergehens vor das Gericht gefordert und sah wohl ein, dass er ohne eine Geldstrafe nicht davonkommen würde. Da klagte er einem Fürsprecher oder Advokaten seine Not und bat ihn um guten Rat. Dieser sagte: "Ich will dir versprechen, dass du ohne alle Kosten aus der Sache gezogen wirst, sofern du mir für meine Mühe vier Gulden als Lohn geben willst." Der Mann war es zufrieden und sagte ihm die vier Gulden zu, wenn er ihm aus der Klemme heraushelfen wollte.
Da gab ihm der Fürsprecher den Rat, wenn er mit ihm vor Gericht käme so sollte er, wie viel man ihn auch fragte, keine andere Antwort geben als das einzige Wörtchen "Blä". Als sie nun vor Gericht kamen, wurde der Mann hart verklagt und stark beschuldigt. Aber man konnte aus ihm kein anderes Wort herausbringen als "Blä". Da lachten die Gerichtsherrn laut auf und fragten seinen Fürsprecher: "Was wollt Ihr denn in seinem Namen antworten?" Der Fürsprecher sagte: "Ich kann nichts für ihn reden, denn er ist ein Narr und kann mir auch nicht sagen, was ich reden soll. Es ist nichts mit ihm anzufangen, er sollte billig freigesprochen werden." Also gingen die Herren zu Rate und beschlossen, ihn ledig zu lassen. So geschah es denn auch.
Nun aber verlangte der Fürsprecher von seinem Schützling die vier Gulden. Aber der sprach: "Blä!" Da sagte der Fürsprecher: "Du wirst mir doch nicht das abbläen, ich will mein Geld haben", und entbot ihn vor das Gericht.
Und als die beiden wieder vor dem Richter standen, sagte der Verklagte wiederum nichts weiter als "Blä." Da sprachen die Gerichtsherren zu dem Fürsprecher: "Was macht Ihr mit dem Narren? Wisst Ihr nicht, dass er nicht reden kann?" Also musste der Advokat mit leeren Händen abziehen und das Wort "Blä" als Entgelt für seine vier Gulden zum Lohne nehmen - und traf wieder einmal Untreue den eigenen Herrn.

:lol:
Riccarda
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Beitrag von Riccarda »

Liebe Claudine,
ich danke dir sehr für deine wunderbare Geschichte, die mir ganz außerordentlich gut gefällt!
Schade, dass in 3 Tagen diese Geschichten ein Ende haben...

Liebe Grüße von Riccarda
Claudine*
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Beitrag von Claudine* »

Liebste Riccarda, oh ich wünsche mir so sehr, dass nach dem Ablauf der Frist das Krönchen obendrauf gesetzt wird!!! Ich kann dir nicht sagen, wie sehr...

Hier die Sonntagsgeschichte:

Von einem armen Studenten, der aus dem Paradies kam

Ein armer Student, der nur wenig Geld im Beutel hatte und lieber die Füße unter den Tisch stellte als fleißig studierte, kam eines Tages durch den Dorf und kehrte in dem Hause eines reichen Bauern ein. Der Bauer war nicht daheim, sondern in den Wald gefahren, um Holz zu holen. Die Frau, die vordem schon einen Mann gehabt hatte, der Hans geheißen und vor wenigen Jahren gestorben war, stand in dem Hofe vor dem Hause. Als sie den Studenten erblickte, sprach sie ihn an und fragte, wer er sei und von wannen er käme. Der Student antwortete: "Ich bin ein armer Studiosus und komme aus Paris." Die gute, aber einfältige Frau verstand dies nicht recht und meinte, er hätte gesagt, er komme aus dem Paradies. Deshalb fragte sie ihn nochmals: " "Wie? Ihr kommt aus dem Paradies?" - "Ja, liebe Frau," antwortete der Student, denn er merkte sogleich, wen er vor sich hatte. Da sprach die Frau: "Lieber, guter Freund, kommt doch mit mir in die Stube; ich möchte Euch noch etwas Weiteres fragen."
Als er nun in die Stube kam, hieß sie ihn niedersetzen und begann dann: "Mein guter Freund, ich habe früher schon einen Mann gehabt, hat Hans geheißen, der ist vor 3 Jahren gestorben. Ach, du mein lieber Hans, Gott tröste deine liebe Seele! Ich weiß, dass er im Paradies ist; er ist immer ein frommer Mensch gewesen. Lieber Freund, habt Ihr ihn dort nicht im Paradies gesehen? Ober kennt Ihr ihn nicht?" Der Student sagte: "Wie heißt er denn mit Zunamen?" Sie sprach: "Man hat ihn nur Hans Gutschaf genannt; er schielt ein wenig." Der Student besann sich eine Zeit lang, dann sagte er: "Potztausend ja, den kenne ich wohl." Da freute sich die Bäuerin und fragte: "Ei, lieber Freund, wie geht's ihm denn, meinem guten Hans dort im Paradies?" Der Student antwortete: "Schlecht genug. Der arme Tropf hat weder Geld noch Kleider. Wenn gute Gesellen nicht das Beste getan hätten bislang, er wäre schon Hungers gestorben."
Als die Frau dies vernahm, fing sie an bitterlich zu weinen und jammerte: "Ach, du mein Hans, bei mir hast du nie Mangel gehabt, und nun musst du in jener Welt Hunger leiden! Hätte ich das gewusst, ich würde dich versorgt haben mit Kleidern und Geld, dass du auch anderen gleich hättest leben können; denn du hast ja noch gute Kleider genug im Schranke hängen. Wenn ich nur einen Boten hätte, ich würde es dir schicken und einen guten Zehrpfennig dazu." Als der Student dies hörte, sprach er zu der Frau: "O liebe Frau, seid guter Dinge! Wenn es Euch nur an einem Boten mangelt, so will ich Euch wohl gefällig sein und alles an Euren Hans besorgen. Denn ich gehe bald wieder ins Paradies zurück und habe noch einigen anderen Geld mitzubringen."
Da freute sich die Bäuerin, ging hin und holte dem Studenten zu essen und zu trinken und forderte ihn auf, tüchtig zuzulangen. "Unterdessen will ich," sagte sie, für meinen seligen Mann die anderen Sachen zusammensuchen."
Alsobald ging sie hinauf in die Kammer über den Kasten, wo Hansens Kleider lagen, nahm etliche Hemden, zwei Paar Hosen und den gefütterten Rock und band alles sorgfältig in sein leinenes Tuch. Danach holte sie auch etliche Gulden und anderes Geld aus der Lade, verwahrte alles sorgfältig in einem Tüchlein, gabs dem Studenten und schenkte ihm obendrein etwas, damit er sich der Sache mit Ernst annehmen möchte. Als er nun gegessen und getrunken hatte, nahm er das Bündel auf die Schultern und zog damit von dannen.
Unterdessen kehrte der Bauer aus dem Walde heim. Die Frau lief ihm entgegen und sprach: "Lieber Mann, ich muss dir ein Wunder berichten. Es ist ein Student bei mir gewesen, der kam geradewegs aus dem Paradies und kennt meinen seligen Mann sehr gut. Er hat mir gesagt, wie arm er da oben ist und welch großen Mangel er leidet. Da bin ich hingegangen und hab ihm seine Kleider geschickt samt etlichen Gulden und anderem Gelde, was ich für mich heimlich gespart hatte." Der Bauer erschrak und rief zornig aus:"O du einfältige Frau, du hast dich schön anführen lassen, dem Teufel hast du's wohl gegeben!" Und schnell bestieg er seinen besten Hengst und eilte dem Studenten nach.
Der Student aber, der so etwas geahnt hatte, sah sich fleißig um. Als er nun den Bauern erblickte, warf er eiligst seine Bürde in einen dichten Strauch der am Wege stand, ergriff eine daliegende Schaufel und tat, als ob er am Wege arbeite. Als nun der Bauer herankam, fragte er den Arbeitenden, ob er nicht einen Studenten mit einem Kleiderbügel gesehen habe. "Allerdings," sagte der Student, aber als er Euch kommen sah, ist er über die Hecke gesprungen und ins Holz gelaufen." Und damit sprang er über die Hecke und eilte dem Walde zu. Der Student aber nahm eilends die Bürde, setzte sich auf des Bauern Hengst und ritt davon.
Als nun der Bauer niemand sah, kehrte er wieder um. Aber er fand weder das Ross noch den, der es ihm halten sollte. Da merkte er, wie alles zugegangen war. Als er heimkam, lief ihm sein Weib entgegen und fragte ihn, ob er den Studenten gefunden habe. Der Bauer antwortete: "Allerdings habe ich ihn gefunden, und ich habe ihm auch das Ross gegeben, damit er desto schneller ins Paradies kommt."

:wink:
Claudine*
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Beitrag von Claudine* »

Liebe Riccarda, hoffentlich geht es dir gut! Bitte bewahr die Ruhe (ich weiss, leichter gesagt als getan!!)... Bald hast du es geschafft. Wie geht es deiner ÜS?

Mein heutiges Unterhaltungsprogramm gefällt mir deswegen so gut, weil es überspitzt zeigt, wie hilflos Männer oft ohne uns Frauen sind. Geht dir das mit deinem Schatz auch so? *schmunzel*

Brief eines Strohwitwers

Alles in Ordnung, liebe Käthe!
Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Du brauchst Dir wirklich keine Sorgen um mich zu machen. Es ist alles in Ordnung. Das Essen koche ich selbst, und ich staune täglich mehr, wie es klappt. Da es oft schnell gehen muss, hatte ich mir gestern Bratkartoffeln gemacht. Zwischendurch war ich Brötchen holen. Nach meiner Rückkehr war die Emaille in der Pfanne geschmolzen. Ich hatte nie geglaubt, dass sie so wenig widerstandsfähig ist. Der Rauch in der Küche ist schon wieder abgezogen, aber unser Kanarienvogel ist schwarz wie ein Rabe und hustet.
Sag mal, wie lange muss man eigentlich Eier kochen? Ich habe sie zwei Stunden gekocht, aber sie waren nicht weich zu kriegen. Schreib mir doch mal, ob man angebrannte Milch noch verwenden kann. Soll ich sie aufheben, bis Du wiederkommst?
Hast Du auch schon mal gehabt, dass Dir schmutziges Geschirr verschimmelt ist? Wie ist das nur in so kurzer Zeit möglich? Du bist doch kaum vier Wochen fort.
Mein Liebling! Am Donnerstag hatte ich vergessen, die Wohnung abzuschließen. Es muss jemand dagewesen sein, denn es fehlen einige Wertgegenstände, aber Geld allein macht ja nicht glücklich, wie Du immer sagst. Der Kleiderschrank ist auch leer, aber es kann ja nicht viel drin gewesen sein, denn Du hast Dich ja immer beklagt, dass Du nichts zum Anziehen hast.
Als ich gestern abend die Kaninchen füttern wollte, ist mir die Kerze umgefallen. Im Nu stand alles in Flammen. Ich hatte Mühe, die Futternäpfe zu retten. Die Häschen sind alle schön braun gebraten. Wir wollten sie ja sowieso schlachten. Hoffentlich halten sie sich, bis Du zurückkommst.
Damit will ich schließen, morgen mehr. Ich hoffe, das Du Deine Kur in sorgloser Ruhe und Freude genießt.
Viele herzliche Grüße von Deinem Mann!
Riccarda
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Beitrag von Riccarda »

Liebe Claudine,
jetzt bist du meinem Dankeschön für gestern zuvorgekommen! Die Geschichte von gestern war wieder soooo schön, und bei der heutigen habe ich munter vor mich hingegackert! Das war wieder wunderbar! Solche Sachen könnte ich stundenlang lesen! Viiiiieln Dank dafür!

Die ÜS ist zum Glück weg- weiß der Geier, was da plötzlich los war. Ich bin trotz deiner wunderbaren Ablenkung froh, wenn die Wartezeit endlich vorbei ist und wieder klare Verhältnisse herrschen...Ein Negativ-Ergebnis wird mich auch nicht so runterziehen- es ist einfach die wahrscheinlichere Variante...

Dir und allen Mitleidenden einen schönen Abend, ciao Riccarda
Claudine*
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Beitrag von Claudine* »

Liebe Riccarda

Morgen bist du in deiner Ungewissheit erlöst! Hoffentlich dürfen wir alle mit dir jubeln!!!!!! Ich denke, wir haben in unserem Ordner eine grosse Leserschaft gefunden, so dass auch andere auf das Resultat gespannt sind!

Ich habe mir lange überlegt, was ich denn heute schreiben soll. Irgendwie ist es ja besonders schwierig, weil jetzt die Anspannung wohl am grössten ist. Nun folgt ein sehr langes posting, hoffentlich hast du überhaupt den Nerv, dich durch den Text zu "quälen". Vielleicht druckst du ihn dir aus? (unten links an der Seite kann man eine Druckversion des Beitrages anzeigen lassen)

Auf meiner Suche ist mir das Märchen von Clemens Brentano begegnet. Du weisst ja, in meinem Fach interpretiert man gerne (manchmal zum Leidwesen der SchülerInnen :wink: ), und diese Geschichte regt mich persönlich besonders an. Zum einen, weil hier auch ein Kiwu-Paar vorkommt, wenn auch eher am Rande; es richtet sein Leben auf seine Wünsche aus, ist aber auch zufrieden mit "Alternativen". Schlussendlich erfüllt sich der Traum auf eine Art und Weise dennoch, wenn auch nicht ganz in der vorgesehenen Art. - Zum andern glaube ich, dass die Geschichte sich wie viele Märchen mit dem guten und gelingenden Leben auseinandersetzt (lässt sich auf die verschiedenen Figuren beziehen). Das erinnert mich an das Buch von Verena Kast. Hier steht viel Gutes und Wahres, das mir persönlich viel gebracht hat. Passt es nicht zu unserer Situation?

Diese meint im Vorwort: "Ich halte es für ausserordentlich wichtig, dass wir uns nicht nur mit Bildern vom scheiternden Leben auseinandersetzen, sondern dass wir uns auch den Bildern vom gelingenden Leben öffnen. Denn eigentlich wollen wir ja nicht das Scheitern verhindern, wir möchten vielmehr, dass das Leben gelingt."

Da ich nun ja auch "Hobby"-Psychologin bin ( :smile: Die Prüfungsresultate stehen IMMER NOCH aus...) und zwischendurch ebenfalls Krisen habe (Freitag rückt immer näher!), beschäftigt mich gerade heute dieser Aspekt ganz besonders. Was lässt die Leben in Brentanos Märchen gelingen? Meines Erachtens ist es bei den Eltern die Flexibilität (Wunsch, Lebensgestaltung > Umzug an den Königshof) und Selbstbewusstsein (Entgegentreten, Stehen hinter den eigenen Wünschen). Beim Prinzen ist es das Festhalten und die Treue, der Glaube an, das Vertrauen auf ein gutes Ende. Beim Myrthenfräulein ist es die Liebe und die Kommunikationsfähigkeit.

Kast sagt unter anderem im Vorwort: "Wem gelingt das Leben denn im Märchen? Es gelingt den Märchenheldinnen und Märchenhelden, die ein mitleidiges Herz haben. Wir würden heute wohl sagen: Es gelingt denen, die emphatisch sind, die die Fähigkeit haben, nicht nur sich selber, sondern auch die Menschen und die Welt um sich herum wahrzunehmen. Es gelingt aber auch denen, die dem folgen, woran sie ihr Herz gehängt haben, also denen, die irgendeine Leidenschaft antreibt, von der sie nicht ablassen. Und es gelingt denen, die an ihre eigenen Möglichkeiten glauben und grundsätzlich Vertrauen in das Leben haben. Protagonisten und Protagonistinnen im Märchen haben zudem die gleiche Lebenshaltung: Sie tun, was in der eigenen Kraft liegt, wenn diese erschöpft ist, dann lassen sie sich helfen. Märchenfiguren, die sich selber nicht engagieren, die nicht ihre ganze Kraft einsetzen wollen, kommen jeweils nur bis ins Wirtshaus, wo sie versumpfen, und wenn sie dann versuchen, dem Märchenhelden den gewonnenen Schatz wegzunehmen, hat das immer böse Folgen für sie.
Zum Gelingen braucht es also den eigenen, unbedingten Einsatz. Aber auch das Vertrauen von Protagonisten und Protagonistinnen ist beachtlich. (...) Was bewirkt das Gelingen im Märchen in uns? Märchen beleben innere Bilder und damit Emotionen, besonders, wenn wir sie uns bildhaft vorstellen. (...) Unsere Vorstellungskraft ist eine wunderbare Ressource, je mehr Vorstellungskraft wir haben, je mehr Fantasien wir entwickeln können, ums so weniger sind wir festgelegt in unseren Anschauungen und um so eher können wir auch etwas verändern in unserem Leben, können wir uns auch wandeln. Das bedeutet, dass die Märchen, wenn wir das Augenmerk auf das Gelingen legen, in uns ganz besonders den Hoffnungsaspekt wecken. (...) Ein Märchen zu deuten heisst, im Spiegel des Märchens über das eigene Leben nachzudenken."

In den Schlussbemerkungen schreibt Kast: "Im Märchen gelingt das Leben immer dann, wenn die gerade anstehenden Probleme gelöst werden können. Das bedeutet nicht, dass das Leben danach für immer gelingen wird, aber es gelingt momentan. In den Märchen kümmern sich Heldinnen und Helden selten um die fernere Zukunft, das Gelingen findet im Hier und Jetzt statt. Das Leben nicht zu verfehlen heisst also im Märchen, den Schwierigkeiten zu begegnen, die sich gerade aufdrängen. (...) Gelingendes Leben meint im Märchen nichts Grossartiges - und dennoch etwas Grosses. Ein Märchenheld oder eine Märchenheldin muss sich voll auf seine oder ihre Aufgabe einlassen, und das heisst, er muss immer bereit sein, sich einer grossen Wandlung zu unterziehen. Die Probleme entstehen aus der Sicht der Märchen dadurch, dass das Leben einseitig gelebt wird, dass wirchtige Aspekte ausser acht gelassen und verdrängt wurden. Die Aufgabe der Märchenheldinnen und Märchenheden ist es, das, was verdrängt ist (...) ins Leben hereinzuholen. Der Protagonist oder die Protagonistin macht stellvertretend einen Wandlungsprozess durch - symbolisch gesehen geht es dabei um Tod und Wiedergeburt -, der letztlich das Kollektiv als Ganzes betrifft. Märchenheldinnen und Märchenhelden wehren sich nicht gegen diese Wandlungsprozesse, sie sind also exemplarisch für Menschen, die sich auf die ewige Wandlung einlassen können, ohne ihre Identität zu verlieren. (...) Es ist keine Lebenssituation so schlecht, dass sie nicht doch auch Kräfte wecken würde, die für die Weiterentwicklung gebraucht werden können. Ganz besonders wichtig für das Gelingen scheint zu sein, dass nicht vergessen wird, was einmal gut war im Leben, dass in allen Gefahren und Widrigkeiten die Erinnerung daran bleibt, weil die guten Erfahrungen Quellen des Vertrauens sind und in der aktuellen Situation hilfreich sein können. Das heisst, dass es ausserordentlich wichtig ist, sich auch in Situationen des grössten Selbstzweifels daran zu erinnern, dass es positive Seiten gibt, Seiten, die man an sich akzeptieren kann. (...) Alles zu tun, was in der eigenen Macht liegt, und sich helfen lassen, wenn es ohne Hilfe nicht weitergeht, offen zu sein für rettende Einfälle, scheint eine Grundregel für das geliungende Leben nicht nur im Märchen zu sein. Das erfordert zum einen eine sehr aktive Einstellung dem Leben gegenüber mit viel Mut zur Angst, zum andern eine kontemplative oder meditative Einstellung, die offen ist für Einfälle. Viellecht gelingt das Leben den Märchenheldinnen und Märchenhelden, weil sie nicht sagen: 'Es geht nicht', sondern die Einstellung haben: "'Es muss doch einen Weg geben.' Das weist auf das grundlegende Vertrauen hin, das sie trägt. Bei den einen ist dieses Vertrauen offensichtlich, andere scheinen wenig Vertrauen zu haben, und dennoch erweist sich in den aussichtslosen Situationen, dass sie nicht verzweifeln, sondern dass sie eben doch vertrauen, vielleicht sogar wider besseren Wissens. Sie erklären sich einverstanden mit dem Leben, wie es ist, auch wenn es gelegentlich nicht angenehm ist, sie haben eine Liebe und eine Entschlossenheit auch zu einem schwierigen Schicksal."

(Für alle MitleserInnen, die jetzt interessiert sind: Verena Kast ist Psychologieprofessorin - Tiefenpsychologie - an der Uni Zürich, das Buch heisst "Vom gelingenden Leben. Märcheninterpretationen" und ist im dtv erschienen. Es werden fünf Märchen darin besprochen.)

Für mich bedeutet das alles, dass gelingendes Leben ein stetes Ziel ist. Und dass ich etwas dazu beitragen kann, ich dem Leben also nicht ausgeliefert bin.

Ein Tag vor meinem letzten SST sah ich ein wunderschönes Naturschauspiel (Mond und Wolken über dem See), ich habe davon geschrieben, erinnerst du dich? Ich dachte: "Egal, ob der Test positiv oder negativ ist: Das Leben ist schön!!!!!" Jetzt wünsche ich mir ganz ganz fest, dass du auch eine solche Einstellung reaktivieren kannst - dass du sie hast, weiss ich. Damit überstehst du die letzten Stunden vort dem Test besser.

In Gedanken bin ich bei dir!! :knuddel:

Und jetzt das Märchen, das zwar etwas blutrünstig anmutet, aber symbolisch verstanden werden muss:

Clemens Brentano
Das Märchen von dem Myrtenfräulein

Im sandigen Lande, wo nicht viel Grünes wächst, wohnten einige Meilen von der prozellanenen Hauptstadt, wo der Prinz Wetschwuth residierte, ein Töpfer und seine Frau mitten auf ihrem Tonfeld neben ihrem Töpferofen, beide ohne Kinder, einsam und allein. Das Land war ringsum so flach wie ein See, kein Baum und Busch war zu sehen, und es war gar betrübt und langweilig. Täglich beteten die guten Leute zum Himmel, er möge ihnen doch ein Kind bescheren, damit sie eine Unterhaltung hätten, aber der Himmel erhörte ihre Wünsche nicht. Der Töpfer verzierte alle seine Gefäße mit schönen Engelsköpfen, und die Töpferin träumte alle Nacht von grünen Wiesen und anmutigen Gebüschen und Bäumen, bei welchen Kinder spielten; denn wonach das Herz sich sehnt, das hat man immer vor Augen.
Einstens hatte der Töpfer seiner Frau zwei schöne Werke auf ihrem Geburtstag verfertigt, eine wunderschöne Wiege von dem weißesten Ton, ganz mit goldenen Engelsköpfen und Rosen verziert, und ein großes Gartengefäß von rotem Ton, rings mit bunten Schmetterlingen und Blumen bemalt. Sie machte sich ein Bettchen in die Wiege und füllte das Gartengefäß mit der besten Erde, die sie selbst stundenweit in ihrer Schürze dazu herbeitrug, und so stellte sie die beiden Geschenke neben ihre Schlafstelle, in beständiger Hoffnung, der Himmel werde ihr ihre Bitte gewähren; und so betete sie auch einst abends von ganzer Seele:
Herr, ich flehe auf den Knien,
Schenke mir ein liebes Kind,
Fromm will ich es auferziehen:
Ists ein Mägdlein, daß es spinnt
Einen klaren reinen Faden
Und dabei hübsch singt und betet;
Ists ein Sohn durch deine Gnaden,
Daß er kluge Dinge redet
Und ein Mann wird treu von Worten,
Stark von Willen, kühn von Tat,
Der geehrt wird aller Orten,
Wie im Kampfe, so im Rat.
Herr! bereitet ist die Wiege,
Gib, daß mir ein Kind drin liege!
Ach, und sollte es nicht sein,
Gib mir doch nur eine Wonne,
Wärs auch nur ein Bäumelein,
das ich in der lieben Sonne
Könnte ziehen, könnte pflegen,
Daß ich mich mit meinem Gatten
Einst im selbsterzognen Schatten
Unter ihm ins Grab könnt legen.
So betete die gute Frau unter Tränen und ging zu Bett. In der Nacht war ein schweres Gewitter, es donnerte und blitzte, und einmal fuhr ein heller Glanz durch die Schlafkammer. Am andern Morgen war das schönste Wetter, ein kühler Wind wehte durch das offene Fenster, und die gute Töpferin lag in einem süßen Traum, als sitze sie unter einem schönen Myrtenbaum bei ihrem lieben Manne. Da säuselte das Laub um sie und sie erwachte, und siehe da! ein frisches junges Myrtenreis lag neben ihr auf dem Kopfkissen und spielte mit seinen zarten im Winde bewegten Blättern um ihre Wangen. Da weckte sie mit großen Freuden ihren Mann, und zeigte es ihm, und sie dankten beide Gott auf ihren Knien, daß er ihnen doch etwas Lebendiges geschenkt hatte, das sie könnten grünen und blühen sehen. Sie pflanzten das Myrtenreis mit der größten Sorgfalt in das schöne Gartengefäß, und es war täglich ihr liebstes Geschäft, das junge Stämmchen zu begießen und in der Sonne zu setzen und vor bösem Tau und rauhen Winden zu schützen. Der Myrtenreis wuchs zusehends unter ihren Händen und duftete ihnen Fried und Freud ins Herz.
Da kam einstens der Landesherr, Prinz Wetschwuth, in diese Gegend mit einigen Gelehrten, um neue Porzellanerde zu entdecken; denn es wurden in seiner Hauptstadt Porzellania so viele Häuser davon gebaut, daß diese Erde in der Nähe der Stadt selten geworden war. Da er in die Wohnung des Töpfers eintrat, ihn um seinen Rat zu fragen, ward er bei dem Anblick des Myrtenbäumchens so durch dessen Schönheit hingerissen, daß er alles andere vergaß und in lauter Verwunderung ausrief: »O wie lieblich, wie reizend ist diese Myrte! Ihr Anblick hat für mein Herz etwas ungemein Erquickendes, ich möchte immer in der Nähe dieses Baumes leben - nein, ich kann ihn nicht entbehren, ich muß ihn besitzen, und müßte ich ihn mit einem Auge erkaufen.« Nach diesem Ausruf fragte er sogleich den Töpfer und seine Frau, was sie für die Myrte verlangten. Diese guten Leute erklärten auf die bescheidenste Weise, daß sie den Baum nicht verkaufen wollten, und daß er das Liebste sei, was sie auf Erden hätten. »Ach,« sagte die Töpferin, »ich könnte nicht leben, wenn ich meine Myrte nicht vor mir sähe; ja sie ist mir so lieb und wert, als wäre sie mein Kind, und kein Königreich nähme ich für diese meine Myrte.« Da der Prinz Wetschwuth dies hörte, ward er sehr traurig und begab sich nach seinem Schlosse zurück. Seine Sehnsucht nach der Myrte ward so groß, daß er in eine Krankheit fiel und das ganze Land um ihn bekümmert wurde. Da kamen Abgesandte zu dem Töpfer und seiner Frau, und forderten sie auf, die Myrte dem Prinzen zu überlassen, damit er nicht vor Sehnsucht sterben möchte. Nach langen Unterhandlungen sagte die Frau: »Wenn er die Myrte nicht hat, so muß er sterben, und wenn wir die Myrte nicht haben, so können wir nicht leben; will der Prinz nun die Myrte haben, so muß er uns auch mitnehmen, wir wollen sie ihm überbringen und ihn anflehen, daß er uns als treue Diener in sein Schloß aufnehme, damit wir die geliebte Myrte dann und wann sehen und uns an ihr erfreuen können.« Das waren die Abgesandten zufrieden, sie schickten gleich einen Reiter in die Stadt mit der frohen Nachricht, die Myrte werde ankommen, der Prinz sollte Mut fassen. Nun stellte der Töpfer das Gefäß mit der Myrte auf eine Tragbahre, über welche die Frau ihre schönsten seidenen Tücher gebreitet hatte, und sie trugen beide, nachdem sie ihre Hütte verschlossen hatten, den geliebten Baum nach der Stadt, wohin sie von den Abgesandten begleitet wurden. Von der Stadt kam ihnen der Prinz selbst in einem Wagen entgegen und hatte ein goldenes Gießkännchen in der Hand, womit er die geliebte Myrte begoß, bei deren Anblick er sich sichtbar erholte. Vier weißgekleidete, mit Rosen geschmückte Jungfrauen kamen mit einem rotseidenen Traghimmel, unter welchem die Myrte nach dem Schloß getragen wurde. Kinder streuten Blumen, und alles Volk war froh und warf die Mützen in die Höhe. Nur neun Fräulein in der Stadt waren nicht bei der allgemeinen Freude zugegen, denn sie wünschten, daß die Myrte verdorren möchte, weil der Prinz, ehe er die Myrte gesehen hatte, sie oft besuchte und jede von ihnen gehofft hatte, einst Beherrscherin der Stadt Porzellania zu werden. Seit aber von der Myrte die Rede war, hatte er sich nicht mehr um sie bekümmert; drum waren sie auf den unschuldigen Baum so erbittert, daß sich an diesem Freudentage keine von ihnen erblicken ließ. Der Prinz ließ die Myrte an das Fenster seiner Stube stellen und gab dem Töpfer und seiner Frau eine Wohnung im Schloßgarten, aus deren Fenster sie die Myrte immer erblicken konnten, womit die guten Leute dann auch wohl zufrieden waren.
Der Prinz war bald wieder ganz gesund; er pflegte den Baum mit einer unbeschreiblichen Liebe und Sorgfalt; auch wuchs dieser und breitete sich aus zu aller Freude. Einstens setzte sich der Prinz abends neben dem Baume auf sein Ruhebett. Alles war ruhig im Schloß, und er entschlummerte in tiefen Gedanken. Da nun die Nacht alles bedeckt hatte, hörte er ein wunderbares Säuseln in seinem Baum und erwachte und lauschte; da vernahm er eine leise Bewegung in seiner Stube herum, und ein süßer Duft breitete sich umher. Er war stille, stille und lauschte immerfort; endlich, da es ihm wieder so wunderbar in der Myrte säuselte, begann er zu singen:
Sag, warum dies süße Rauschen,
Meine wunderschöne Myrte!
O mein Baum, für den ich so glühe?
Da sang eine liebliche leise Stime wider:
Dank will ich für Freundschaft tauschen
Meinem wunderguten Wirte,
Meinem Herrn, für den ich blühe!
Da war der Prinz über die Stimme so entzückt, daß es nicht auszusprechen ist; aber bald ward seine Freude noch viel größer, denn er bemerkte, daß sich jemand auf den Schemel zu seinen Füßen setzte, und da er die Hand darnach ausstreckte, ergriff eine zarte Hand die seinige und führte sie an die Lippen eines Mundes, welcher sprach: »Mein teurer Herr und Prinz! frage nicht, wer ich bin; erlaube mir nur dann und wann in der Stille der Nacht zu deinen Füßen zu sitzen und dir zu danken für die treue Pflege, welche du mir in der Myrte bewiesen, denn ich bin die Bewohnerin dieser Myrte; aber mein Dank für deine Zuneigung ist so gewachsen, daß er keinen Raum mehr in diesem Baume hatte, und so hat es mir der Himmel vergönnt, in menschlichen Gestalt dir manchmal nahezusein.« Der Prinz war entzückt über diese Worte und pries sich unendlich glücklich durch dies Geschenk der Götter. Sie unterhielten sich einige Stunden, und sie sprach so weise und klug, daß er vor Begierde brannte, sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Das Myrtenfräulein aber sagte zu ihm: »Laß mich erst ein kleines Lied singen, dann kannst du mich sehen«, und sie sang:
Säusle, liebe Myrte!
Wie still ists in der Welt,
Der Mond, der Sternenhirte
Auf klarem Himmelsfeld,
Treibt schon die Wolkenschafe
Zum Born des Lichtes hin,
Schlaf, mein Freund, o schlafe,
Bis ich wieder bei dir bin.
Dazu säuselte die Myrte, und die Wolken trieben so langsam am Himmel hin, und die Springbrunnen plätscherten so leise im Garten, und der Gesang war so sanft, daß der Prinz einschlief, und als er kaum nickte, erhob sich das Myrtenfräulein leise, leise vom Schemel und begab sich wieder in die Myrte.
Als der Prinz am Morgen erwachte, erblickte er den Schemel leer zu seinen Füßen, und er wußte nicht, ob das Myrtenfräulein wirklich bei ihm gewesen war, oder ob er nur geträumt habe; aber da er das Bäumchen ganz mit Blüten übersät sah, die in der Nacht aufgegangen waren, ward er der Erscheinung immer gewisser. Nie ward die Nacht so sehnsüchtig erwartet als von ihm; er setzte sich schon gegen Abend auf sein Ruhebett und harrte. Endlich war die Sonne hinunter, es dämmerte, es ward Nacht. Die Myrte säuselte, und das Myrtenfräulein saß zu seinen Füßen und erzählte ihm so schöne Sachen, daß er nicht genug zuhören konnte, und als er sie wieder bat, Licht anzünden zu dürfen, sang sie ihm wieder ein Liedchen:
Säusle, liebe Myrte!
Und träum im Sternenschein,
Die Turteltaube girrte
Auch ihre Brust schon ein.
Still ziehn die Wolkenschafe
Zum Born des Lichtes hin,
Schlaf, mein Freund, o schlafe,
Bis ich wieder bei dir bin.
Da schlummerte der Prinz wieder ein und erwachte am Morgen wieder mit der gleichen Überraschung und erwartete die Nacht wieder mit gleicher Sehnsucht. Aber es ging ihm auch diesmal wie in der ersten und zweiten Nacht, sie sang ihn immer in den Schlaf, wenn er sie zu sehen verlangte. Sieben Nächte ging dies so fort, während welchen sie ihm so vortreffliche Lehren über die Kunst zu regieren gab, daß seine Begierde, sie zu sehen, nur noch größer ward. Er lies daher am andern Tage an die Decke seiner Stube ein seidenes Netz befestigen, welches er ganz leise niederlassen konnte, und so erwartete er die Nacht. Als das Myrtenfräulein wieder zu seinen Füßen saß und ihm die tiefsinnigsten Lehren über die Pflichten eines guten Fürsten gegeben hatte, wollte sie ihm wieder das Schlaflied singen, aber er sprach zu ihr: »Heute will ich einmal singen«, und sie gab es nach vielen Bitten zu; da sang er folgendes Liedchen:
Hörst du, wie die Brunnen rauschen?
Hörst du, wie die Grille zirpt?
Stille, stille, laß uns lauschen,
Selig, wer in Träumen stirbt;
Selig, wen die Wolken wiegen,
Wem der Mond ein Schlaflied singt!
O! wie selig kann der fliegen,
Dem der Traum den Flügel schwingt,
Daß an blauer Himmelsdecke
Sterne er wie Blumen pflückt:
Schlafe, träume, flieg, ich wecke
Bald dich auf und bin beglückt.
Und dies Lied wirkte so durch die sanfte Weise, in welcher er es sang, daß das Myrtenfräulein zu den Füßen des Prinzen entschlummerte; da ließ er das Netz nieder über sie und zündete seine Lampe an, und o Himmel! was sah er? Die wunderschönste Jungfrau, welche jemals gelebt, im Antlitz wie der klare Mond so mild und rein, Locken wie Gold um die Stirne spielend und auf dem Haupt ein Myrtenkrönchen; sie hatte ein grünes Gewand an, mit Silber gestickt, und ihre Hände gefaltet wie ein Engelchen. Lange betrachtete er seine Freundin und Lehrerin mit stummen Erstaunen, dann konnte er seine Freude nicht mehr fassen, er brach in lautem Jubel aus und rief: »O Tugend! o Weisheit! wie schön ist deine Gestalt; wer kann leben ohne dich, wenn er dich einmal erblickte.« Dann ergriff er ihre Hand und steckte ihr seinen Siegelring an den Finger und sprach: »Erwache, o meine holdselige Freundin! nimm meinen Thron und meine Hand und verlasse mich nie wieder.« Da erwachte das Myrtenfräulein, und als es das Licht erblickte, errötete es über und über, und blies die Lampe aus. Dann klagte sie, daß er sie gefangen habe, und sagte, daraus wird gewiß Unglück kommen; aber der Prinz bat sie so sehr um Vergebung, bis sie ihm verzieh und versprach, die Fürstin seines Landes zu werden, wenn ihre Eltern es erlaubten, er sollte nur alle Anstalten zur Hochzeit machen und dann ihre Eltern fragen; bis dahin sollte er sie aber nicht wiedersehen. Der Prinz willigte in alles ein und fragte sie, wie er sie rufen solle, wenn er alle Anstalten getroffen habe, und sie sagte: »Befestige eine kleine Silberglocke an die Spitze meines Bäumchens, und sobald du klingelst, werde ich erscheinen.« Nun zerriß sie das Netz, der Baum rauschte, und fort war das Myrtenfräulein.
Der Tag war kaum angebrochen, als der Prinz auch schon alle seine Minister und Räte zusammenberief und ihnen bekannt machte, daß er sich nächstens zu vermählen gedenke und daß sie alle Anstalten zu dem prächtigsten Hochzeitsfeste treffen sollten, das jemals im Land gewesen. Die Räte waren sehr erfreut darüber und fragten ihn untertänigst um den Namen der Braut, damit sie ihren Namenszug bei der Illumination anbringen könnten. Da sagte der Prinz: »Der erste Buchstabe ihres Namens ist M und es sollen beim Feste überall Myrtenzweige hingemalt werden, wo es sich schickt.« Da wollten die Herren ihn schon verlassen, als plötzlich eine Botschaft kam, daß ein wildes Schwein in dem fürstlichen Tiergarten toll geworden wäre und in dem darin befindlichen gläsernen Lusthause alles chinesische Porzellan zertrümmert habe; es sei äußerst nötig, es sogleich zu erlegen, damit es nicht andere Schweine beiße und auch toll mache, welche dann leicht die ganze Stadt Porzellania über den Haufen werfen könnten. Da durfte der Prinz nicht länger zaudern; er befahl seinen Räten, einstweilen die Hochzeit zuzubereiten, und zog mit seinen Jägern hinaus auf die Jagd.
Als der Prinz aus dem Schloß ritt, lagen die neun bösen Fräulein, welche sich nicht mit gefreut hatten, als Myrte so feierlich in die Stadt gebracht wurde, sehr schön geputzt am Fenster, in der Hoffnung, der Prinz werde sie bemerken und grüßen; aber vergebens, wenn sie sich gleich so weit herauslegten, daß sie leicht hätten auf die Straße fallen können: der Prinz tat nicht, als wenn er sie bemerkte. Hierüber aufgebracht, kamen sie zusammen und faßten den Entschluß, sich zu rächen. Die Geschichte mit dem tollgewordenen wilden Schwein war auch nur von ihnen ausgesprengt, damit der Prinz, der sich gar nicht mehr sehen ließ, über die Straße reiten sollte: sie hatten das chinesische Porzellan in dem Lusthaus durch ihre Diener zerschlagen lassen. Als sie eben versammelt waren, trat der Vater der Ältesten, der einer der Minister war, herein, und machte den Damen bekannt, sie möchten sich zum Hochzeitsfest des Prinzen vorbereiten; der Prinz werde eine Prinzessin M. heiraten, auch sei von vielen Myrtenverzierungen bei der Illumination die Rede. Kaum waren sie wieder allein, als sie ihrem ganzen Zorn den Lauf ließen; denn sie hatten sich alle neun eingebildet, den porzellanenen Thron zu besteigen. Sie ließen sich einen Maurer kommen, der mußte ihnen einen unterirdischen Gang bis in die Stube des Prinzen machen; denn sie wollten sehen, wen er dort versperrt habe. Als der Gang fertig war, beredeten sie noch ein zehntes junges Fräulein, der sie jedoch ihr Vorhaben verschwiegen, mitzugehen, welche es auch tat, doch nur aus Neugier und nicht aus bösem Willen; sie nahmen sie aber nur mit, um sie dort zurückzulassen, als habe sie alles getan. Hierauf begaben sie sich in einer Nacht mit Laternen versehen durch den Gang in die Stube des Prinzen und suchten alles durch, sehr verwundert, nichts Besonderes darin zu finden außer der Myrte. An dieser ließen sie nun allen ihren Grimm aus, rissen ihr Zweige und Blätter ab, und als sie auch den Wipfel herunterrissen, klingelte das Glöckchen, und das Myrtenfräulein, welches glaubte, es sei dies das Zeichen zu ihrer Hochzeit, trat plötzlich in dem schönsten Brautkleide aus der Myrte. Anfangs verwunderten sich die bösen Geschöpfe, aber bald waren sie einig, dieses müßte die künftige Fürstin sein, und somit fielen sie über sie her und ermordeten sie auf die unbarmherzigste Weise, indem sie das arme Myrtenfräulein mit ihren Messern in viele kleine Stücke zerhackten; jede nahm sich einen Finger von dem armen Myrtenfräulein mit; nur das zehnte Fräulein hatte nicht mitgeholfen und nur immer gejammert und geweint, wofür sie sie dann einsperrten und nun auf demselben Wege entwichen.
Als der Kammerdiener des Prinzen, welchem dieser bei Lebensstrafe befohlen hatte, die Myrte täglich zu begießen und täglich die Stube aufzuräumen, als wenn der Prinz da wäre, zu seiner Verrichtung hereintrat, war sein Entsetzen unbeschreiblich, da er das zerfleischte Myrtenfräulein in dem Blute an der Erde herumliegen und den Myrtenbaum zerknickt und entblättert sah. Er wußte nicht, was dies sein konnte, denn er wußte von dem Myrtenfräulein nichts; da erzählte ihm das junge Fräulein, welches weinend in einer Ecke saß, alles. Sie nahmen unter bittern Tränen alle Glieder und Knochen der Unglücklichen zusammen und begruben sie unter dem zerstörten Myrtenbaum in das Gefäß, so daß alles einen kleinen Grabhügel bildete; sodann wuschen sie den Boden so rein sie konnten, und begossen den Baum mit dem blutverschmierten Wasser, räumten die Stube auf, schlossen sie zu, und flohen in großer Angst miteinander; doch nahm das Fräulein eine Locke der unglücklichen Gemordeten zum Andenken mit.
Unterdessen waren die Vorbereitungen zu der Hochzeit beinahe fertig, und der Prinz, der das wilde Schwein vergebens aufgesucht hatte, kehrte nach der Stadt zurück. Sein erster Gang war zu dem guten Töpfer und seiner Frau, welchen er seine Geschichte mit dem Myrtenfräulein erzählte und sie um die Hand ihrer Tochter bat. Die guten Leute waren vor Entzücken fast außer sich, als sie vernahmen, daß in ihrem Myrtenbaum ihnen eine Tochter erwachsen sei, und wußten nun, warum sie denselben so ungemein liebgehabt hatten. Freudig willigten sie in die Bitte des Prinzen ein und begleiteten ihn in das Schloß, um ihre wunderbare Tochter zu sehen. Als sie nun zusammen in das Zimmer traten, wo die Myrte stand, sahen ihre Augen ein trauriges Schauspiel: - am Boden noch viele blutige Spuren, und der geliebte Baum entblättert und verletzt, neben ihm aber ein Grabhügel. Der Prinz rief, der Töpfer rief, die Töpferin rief: »O meine geliebte Braut! o mein teures Kind! mein einziges liebes Töchterchen! o wo bist du, laß dich sehen vor deinen unglücklichen Eltern!« Aber nichts rührte sich, und ihre Verzweiflung war unbegrenzt. Die drei armen Unglücklichen saßen nun ganze Tage und begossen den Myrtenbaum mit ihren Tränen, und das ganze Land war bestürzt und traurig.
Unter solchen Schmerzen pflegten und warteten der Prinz und der Töpfer nebst seiner Frau den kranken Myrtenbaum aufs zärtlichste, und er begann wieder Zweige zu treiben, worüber sie sehr erfreut wurden, und er war schon wieder ganz hergestellt, nur fehlten ihm an dem Wipfel einige Blätter und an einem seiner beiden Hauptäste die äußersten fünf Sprossen und an dem andern vier, neben welchen der fünfte zu keimen anfing. Diesen fünften Sproß beobachtete der Prinz alle Tage, und wie entzückt war er nicht, als er eines Morgens diesen Sproß ganz erwachsen und den Ring, den er dem Myrtenfräulein gegeben, an demselben wie an einem Finger befestigt sah. Sein Entzücken war unbeschreiblich; denn er glaubte nun, das Myrtenfräulein müsse noch leben. In der nächsten Nacht saß er mit dem Töpfer und der Töpferin bei dem Baum, und sie flehten die Myrte so zärtlich um ein Lebenszeichen an, daß der Baum endlich zu säuseln begann und folgende Worte sang:
Habt Erbarmen,
An zwei Armen
Fehlen mir neun Fingerlein.
Lieber Prinz! in deinem Reiche
Wachsen jetzt neun Myrtenzweige,
Und sie sind mein Fleisch und Bein.
Habt Erbarmen,
Schafft mir Armen
Wieder die neun Fingerlein.
Der Prinz und die Eltern waren durch dies traurige Lied sehr gerührt, und der Prinz ließ den andern Tag im ganzen Lande bekanntmachen, wer ihm die schönsten Myrtenzweige bringe, den wolle er mit seiner königlichen Hand belohnen. Dieses kaum auch zu den Ohren der Mordfräulein, welche die arme Myrte so schrecklich gemartert hatten, und sie waren sehr froh darüber: denn sie hatten die neun Finger des Myrtenfräuleins, jede den ihren, in einen Topf mit Erde vergraben, und es waren kleine Myrtensprosse daraus erwachsen. Sie putzten sich gleich schön an und kamen eine nach der andern mit ihren Myrtenzweigen ins Schloß; denn sie glaubten, die Worte des Prinzen wollten soviel sagen, als wolle er die Überbringerin der schönsten Myrte heiraten. Der Prinz ließ ihnen die Myrtenzweige abnehmen und versprach ihnen seiner Zeit Antwort sagen zu lassen; sie möchten sich nur zum Feste vorbereiten. Als er nun alle die neun Zweige neben den großen Baum gestellt hatte, sprach die Stimme aus dem Baum:
Willkomm, willkomm, neun Zweigelein!
Willkomm, willkomm, neun Fingerlein!
Willkomm, willkomm, mein Fleisch und Bein!
Willkomm, willkomm, zum Topf herein!
Da begrub der Prinz die neun Zweige und die neun Finger unter die Myrte, welche noch denselben Tag die neun fehlenden Sprossen trieb. Nun aber kam noch das jüngste Fräulein, welche nur die Haarlocke genommen und ihr den Ringfinger gelassen hatte, und warf sich dem Prinzen zu Füßen und sagte: »Herr! ich habe keine Myrte und habe auch keine haben wollen; aber diese Locke gebe ich in deine Hand und bitte dich um eine Gnade.« Der Prinz versprach sie ihr, und sie erzählte ihm, wie die ganze Mordtat geschehen sei, und bat ihn, er möge seinem entflohenen Kammerherrn verzeihen und sie mit demselben vermählen. Da gab ihr der Prinz einen Gnadenbrief für denselben, und sie lief zu ihm in den Wald, wo er sich in einem hohlen Baum versteckt hatte, in den sie ihm täglich zu essen gebracht. Der Kammerherr erfreute sich sehr über sein Glück und kam mit ihr wieder in die Stadt. Als aber der Prinz die Haarlocke auch vergraben hatte, sprach die Myrte:
Nun bin ich ganz
Im alten Glanz,
Bring mir den Kranz
Und führe mich zum Hochzeitstanz
Da ließ der Prinz ein großes Fest vor allem Volke im Schloßgarten ansagen; da alles versammelt war, ward die Myrte unter einen Thronhimmel gestellt, und der schönste Blumenkranz, mit Gold durchwunden, ward ihr von dem Töpfer und der Töpferin aufgesetzt, und als dies kaum geschehen war, trat das Myrtenfräulein, wie die schönste Braut geschmückt, aus dem Baum hervor und ward von ihren Eltern, welche sie noch nie gesehen hatten, unter Freudentränen und dann von dem glücklichen Prinzen als seine Braut herzlich umarmt. Da standen die neun Mordfräulein wie auf heißen Kohlen; der Prinz aber sprach: »Was verdient der, welche diesem Myrtenfräulein etwas zu Leide tut?« Und einer sagte da nach dem andern irgendeine harte Strafe her, und als die Frage an die neun Fräulein kam, sagten sie alle zusammen: »Daß ihn die Erde verschlinge und seine Hand aus der Erde wachse«; und kaum hatten sie es gesagt, als die Erde sie auch verschlang und über ihnen Fünffingerkraut hervorwuchs. Nun wurde die Hochzeit gehalten, und der Kammerherr hielt mit dem jüngsten Fräulein auch Hochzeit. Es schenkte dem Prinzen der Himmel auch bald ein kleines Myrtenprinzchen, das ward in der schönen Wiege des alten Töpfers gewiegt, und das ganze Land war froh und glücklich.
Der Myrtenbaum aber ward bald so stark und groß, daß man ihn ins Freie setzen mußte. Da begehrte die Prinzessin Myrte, daß er neben die ehemalige Hütte ihrer Eltern gesetzt werde; das geschah auch, und die Hütte ward zu einem schönen Landhaus verändert, und endlich ward aus dem Myrtenbaum ein Myrtenwald, und die Enkel des Töpfers und seiner Frau spielten darin, und die beiden guten Leute wurden dort, wie sie gewünscht hatten, unter dem Myrtenbaum begraben. Der Prinz und das Myrtenfräulein ruhen wohl auch schon dort, wenn sie nicht mehr leben sollten, woran ich fast zweifle; denn es ist schon sehr lange her.

Alles Liebe für dich, Riccarda!! :knuddel:
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karin
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Beitrag von karin »

Liebe Claudine,

ich hab´ zwar nicht alles gelesen, möchte Dir aber gerne nochmals Danke sagen, eine sehr schöne, liebevolle Art, die Wartezeit verkürzt zu bekommen.

Herzlichst
Karin
debi
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Beitrag von debi »

Liebe Claudine,

Du übertriffst Dich ja von Tag zu Tag. Jetzt hast Du aber bestimmt wunde Finger vom schreiben? Ich finde Dich und Deine wundervollen Geschichten echt klasse! Und Riccarda haben sie ganz sicher in dieser schwierigen Zeit geholfen.


Liebe Riccarda,

mir fällt leider keine so tolle Geschichte ein, aber ich wollte Dir sagen, dass ich ganz feste an Dich denke und Dir aus tiefstem Herzen ein Positiv wünsche. Wir alle hier hoffen mit Dir und drücken sämtliche Daumen. Ich würde mich wirklich riesig freuen, wenn es geklappt hat. Leider muss ich morgen arbeiten und werde erst morgen abend Dein Ergebnis erfahren. Ich werde aber ganz sicher morgen früh ständig an Dich denken. Hoffentlich kannst Du überhaupt schlafen heute nacht...

Alles, alles Liebe und ganz viiiiiiieeeeeeeel Glück
wünscht
debi

Und hier noch ein paar Schwangerschaftsviren extra von Urmelchen für Dich:

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