Betr.: Neues Stammzellengesetz
Sehr geehrte Herr/Frau XY
in dieser Woche debattiert der Bundestag über ein neues Stammzellengesetz. Wie ich der Presse entnommen habe, wird das Parlament ohne „Fraktionszwang“ über diese Frage entscheiden. Es gibt inzwischen mehrere Vorschläge für eine Neufassung des Gesetzes. Leider hat sich aber bislang kein Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen für eine Abschaffung der bestehenden Restriktionen, wie das u.a. von den Abgeordneten Flach (FDP) und Claus (Die Linke) vorgeschlagen wird, eingesetzt.
Ich selbst wende mich nun persönlich aus einer doppelten Motivation an Sie: Zum einen bin ich bisher immer Wähler der Grünen gewesen, aber zum anderen stehe ich seit einigen Jahren aus persönlicher Betroffenheit im Dissens mit der von Bündnis 90/Die Grünen vertretenen Ansichten in Sachen Stammzellenforschung.
Im Laufe ihrer Parteigeschichte haben sich die Grünen schrittweise von vielen „fundamentalistischen“ Ansichten verabschiedet und es gelernt, stattdessen sich für eine überzeugende grüne Realpolitik einzusetzen. Dies war sicher ein ganz normaler Prozess des „politischen Erwachsenenwerdens“, den ich selbst zumeist sympathisierend im Rahmen meines eigenen „biographischen Erwachsenwerdens“ mitverfolgt habe. So hatte ich z.B. ursprünglich eine pazifistische Grundeinstellung, die mich als Schüler dazu bewogen hatte, den Wehrdienst zu verweigern. Dennoch konnte ich in den 90er Jahren den Abschied der Grünen vom Pazifismus und die Öffnung für eine Unterstützung von militärischen UN-Missionen aufgrund der europäischen Kriegserfahrungen in Ex-Jugoslawien durchaus nachvollziehen.
Die Haltung der Grünen zur Frage der Stammzellenforschung ist meines Erachtens ein Beispiel für ein Politikfeld, in dem die Partei im Öko-Fundamentalismus der 70er Jahre stecken geblieben sind. Im Verein mit der katholischen Kirche wird ein neuer, vielversprechender medizinischer Forschungszweig unter Verweis auf das ethische Gebot des Schutzes des entstehenden menschlichen Lebens abgelehnt. Diese Haltung hat im Sinne des Rigorismus der kirchlichen „Schutz des Lebens“-Ethik eine gewisse Logik. Die Grünen haben sich aber – meines Erachtens zurecht – gegen die Zumutungen dieser Ethik in der Abtreibungsdebatte gewehrt und auf die Notwendigkeit hingewiesen, zwischen dem Schutz des entstehenden Lebens und den Interessen der ungewollt schwangeren Frauen abzuwägen. Genau diese Abwägung ist aber auch bei der Stammzellenforschung vorzunehmen: Ist es richtig, entstehendes menschliches Leben bereits in einem sehr frühen Stadium zu schützen, wenn dadurch die Erforschung von Heilungsmöglichkeiten für bislang unheilbarer Krankheiten behindert wird?
Anstatt sich hier von kirchlicher Schöpfungs-Ethik leiten zu lassen, wäre es für die Grünen aus ihrer eigenen Tradition heraus eigentlich passender, sich auf Seiten der Betroffenen zu stellen. Wenn es um Gefährdungen durch den technischen Fortschritt geht, so springen die Grünen ja – und auch hier bin ich völlig einverstanden – den Betroffenen zur Seite, ob es nun um die Begrenzung des Braunkohleabbaus oder die Frage von Leukämieerkrankungen in der Nähe von AKWs geht. Menschen, die an bislang unheilbaren Krankheiten oder Gesundheitsstörungen leiden, sind aber eigentlich auch Betroffene, die die Unterstützung der Grünen verdienen, selbst wenn es hier nicht um Kritik, sondern um Befürwortung des technischen Fortschritts geht.
Wie ich eingangs erwähnte, schreibe ich Ihnen diese Mail aus eigener Betroffenheit. Vor 4 Jahren erhielt ich die Diagnose, unfruchtbar zu sein. Für meine Frau und mich war dies ein schwerer Schicksalsschlag, denn wir hatten uns beide eine Familie sehr gewünscht. Leider konnte uns auch die Reproduktionsmedizin nicht helfen, denn bei mir ist die Spermienproduktion bereits in einem frühen Stadium gestört. Die Ursachen hierfür sind unklar; möglicherweise handelt es sich um eine Störung, die bereits als Kind hervorgerufen worden ist. Wie Sie sicher gehört haben, stehen Umweltbelastungen im Verdacht, für derartige Fruchtbarkeitsstörung mitverantwortlich sein zu können.
Für Menschen mit schweren Fruchtbarkeitsstörungen stellt die Stammzellenforschung in sofern eine Hoffnung dar, als in Tierversuchen es bereits gelungen ist, aus Stammzellen befruchtungsfähige Spermien- und Eizellen zu gewinnen. Wenn dies auch beim Menschen gelingen würde, könnten auch Infertile wie ich möglicherweise doch eigene Kinder haben. Auch wenn ich selbst wahrscheinlich von derartigen Fortschritten in der medizinischen Forschung nicht mehr profitieren werde, wünsche ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen doch jedem Menschen, dass ihm ungewollte Kinderlosigkeit erspart bleibt.
Mein persönlicher Leidensdruck wird sicherlich all denjenigen, die unter unheilbaren Krankheiten oder schweren Behinderungen leiden, und die ebenfalls Hoffnungen in Therapien mittels der Stammzellenforschung setzen, zurecht eher klein erscheinen. So erinnere ich mich beispielsweise an meine Zeit als Zivildienstleistender in einer Einrichtung für Schwerbehinderte. Ein Querschnittgelähmter, um den ich mich dort täglich zu kümmern hatte, erzählte mir oft von seinem Traum, dass eines Tages die Medizin Rückenmarksverletzungen heilen könnte. Nun gibt es endlich Hoffnungen, jemandem in dieser Lage helfen zu können! Selbst wenn die Stammzellenforschung auch nur einen kleinen Teil der in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen sollte, könnte sie dennoch in vielen Einzelfällen Menschen neues Lebensglück bringen.
Bevor Sie also bei ihrer Entscheidung über das neue Stammzellengesetz der Neigung nachgeben, im Sinne der Logik des ethischen Rigorismus der Kirchen zu entscheiden, betrachten Sie bitte die Problematik auch einmal gründlich aus der Perspektive der Betroffenen, also aus Sicht der Menschen, denen es verwehrt werden soll, dass ihnen neue medizinische Forschungsmethoden in einigen Jahren bei der Überwindung bislang unheilbarer Krankheiten helfen können.
Eine Aufgabe der bisherigen Restriktionen für die Stammzellenforschung muss natürlich keineswegs bedeuten, dass man in einem zugegebenermaßen sehr sensiblen Forschungsfeld nun einfach „alles erlaubt“ wird. Strenge Kontrollmechanismen könnten gewährleisten, dass nur an medizinisch wirklich sinnvollen Projekten und im Bewusstsein der besonderen Verantwortung, die in ethischen Grenzbereichen immer besteht, geforscht wird.
Da ich mich an dem Internet-Selbsthilfe-Forum „klein-putz.net“ für ungewollt Kinderlose beteilige, werde ich mein Schreiben an Sie in anonymisierter Form zusammen mit Ihrer etwaigen Antwort dort einstellen. Die entsprechende Blogseite finden Sie unter:
http://www.klein-putz.net/forum/viewtop ... 43#2242643. Aufgrund meiner schlechten Erfahrungen, die ich beim Umgang der Öffentlichkeit mit infertilen Männern gemacht habe, möchte ich Sie bitten, meinen Namen in Zusammenhang mit meinem Ihnen vorgetragenen Anliegen nicht publik zu machen.
Es würde mich freuen, wenn ich Sie mit der Darstellung meines persönlichen Falles auch dazu anregen könnte, einmal die Haltung der Grünen zu Fragen des Umgangs mit ungewollter Kinderlosigkeit zu überdenken. Das Forum „klein-putz.net“ hat zusammen mit dem Selbsthilfegruppen-Dachverband „Wunschkind e.V.“ vor der letzten Bundestagswahl einen Forderungskatalog erarbeitet, den Sie unter folgendem Link einsehen können:
http://www.klein-putz.net/forum/info.php?artikel=82
Leider fiel die Antwort der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf diese Forderungen 2005 sehr enttäuschend aus. So erfreulich ich es empfinde, dass die Grünen sich für den konsequenten Schutz vor Umweltgiften, die auch die Fertilität beeinflussen können, einsetzen, so befremdlich ist es für mich, dass die Reproduktionsmedizin von den Grünen weiterhin beargwöhnt wird, obgleich erwiesenermaßen nun einmal viele Fälle von gravierenden Fertilitätsstörungen allein mit Alternativmedizin nicht zu beheben sind. Auch tragen die Grünen mit ihrer Haltung mit dazu bei, dass Fruchtbarkeitsstörungen in unserer Gesellschaft weiterhin ein Tabuthema bleiben, obgleich mittlerweile ca. ein Fünftel aller Paare sich mit derartigen Problemen bei ihrer Familienplanung auseinandersetzen muss. Wegen vieler bestehender Vorurteile, die auch mit der Fundamentalkritik an der Reproduktionsmedizin zusammen hängen, trauen sich leider die meisten Betroffenen nicht, mit ihrer Gesundheitsstörung offen umzugehen.
Mit freundlichen Grüßen
Berti
